Bruder Jona

Die Geschichte von Bruder Jona ist die Frucht eines Schreibprojektes. Zwei Autorinnen schrieben die Geschichte abwechselnd für eine Leserin, ohne sich über den Verlauf zu verständigen. Im „Ping Pong“ entstand jeden zweiten Tag ein Abschnitt.

Bruder Jona war ein kleiner Mönch. Klein, schmächtig, flink und stets bereit, jedem ein Lächeln zu schenken. Der Frühling war angebrochen. Erste warme Sonnenstrahlen beleuchteten die gegenüberliegende Wand des Kreuzgangs. Bruder Jona verbarg die Hände unter seiner Kutte, um sie sich zu wärmen. Nach dem Morgenlob hatte es ihn nicht mehr bei seinen Mitbrüdern gehalten. Er musste sofort in seinen kleinen Garten. Seit der Abt ihm vor einigen Jahren die Sorge um Pflanzen, Kräuter und Gemüse ihres Klosters anvertraut hatte, war Bruder Jona selbst erblüht. In der einfachen bäuerlichen Gegend im Norden Britanniens aus der er stammte, war es selbstverständlich gewesen, von seiner Hände Arbeit zu leben. Tief waren die Menschen seiner Heimat mit „Mutter Erde“ – wie sie sie ehrfürchtig und zugleich liebevoll nannten, verbunden. Viele dort waren noch nicht dem neuen Glauben an den Wanderprediger und Messias Jesus nachgefolgt, der im fernen Palästina gelebt hatte, sondern verehrten die „Große Göttin“, ihrer keltischen Vorfahren. Die innige Verbundenheit mit ihrer natürlichen Umgebung, dem Acker, dem Wald und allen Tieren, gehörte zum Wesen dieser Menschen.

Jonas Familie gehörte zur christlichen Gemeinschaft des „Vaters Jakob“. Dieser war ein gütiger, zugewandter Mann, der allen Menschen im Dorf (und weit darüber hinaus) stets gerne half. Er stand ihrer kleinen Gemeinde als Priester vor; war aber zugleich Weiser und Lehrer – ein „Arzt für die Seelen“. Er war bei allen Dorfbewohnern – unabhängig welcher religiösen Überzeugung sie folgten – gleichermaßen beliebt und geachtet. Er sprach stets eher wenig, langsam und achtsam. Eigentlich sprach er mehr mit Herz und Augen als tatsächlich mit seinen Worten. Immer wenn man mit irgendeiner Last seinen Rat aufsuchte, hatte man den Eindruck, er würde in seinem Inneren gleichsam eine Schale für sein Gegenüber formen, die diesen liebevoll bergend und ebenso frei und sozusagen „nach oben offen“ aufnahm. Ihm konnte man sich wahrhaft mit-teilen. Und Bruder Jona durfte bei ihm bereits als 5-jähriger in die Schule gehen. Vater Jakob liebte seinen „kleinen Adlatus“, wie er ihn nannte, denn da Jona keine Geschwister hatte, und Vater Jakob seine Eltern davon überzeugte, dass seine wache Seele noch viel mehr erblühe, wenn sie sich früh den Menschen öffnen würde, nahm er ihn zu vielen seiner Besuche mit. So halfen sie den Bauern bei der Ernte, versorgten Kranke, lehrten Kinder das Lesen (Bruder Jona konnte es mit 5 Jahren bereits selbständig!) und besuchten die Alten des Dorfes.
Vater Jakob war Bruder Jonas großes Vorbild; so wollte er auch einmal werden! Je älter er wurde, desto größer wurde seine Sehnsucht, noch mehr zu lernen. Vater Jakob schlug seinen Eltern vor, ihn in eine der Schulen zu schicken, die an Klöster angeschlossen waren. Das jedoch hieß, die geliebte Heimat, das Dorf und vor allem die Eltern zu verlassen. Und das machte Jona traurig.

Lange war das nun schon her. Viele Bilder in seinen Gedanken wurden nun von der Sonne an der gegenüberliegenden Wand des Kreuzgangs mit durchstrahlt. Und plötzlich sprang Bruder Jona von der massiven steinernen Bank auf der er saß. Ein neuer Tag lag vor ihm:
Ein außergewöhnlicher Tag. Denn Vater Abt hatte den großen Rat einberufen. Eine wichtige Entscheidung stand an, bei der Jeder – vom Ältesten bis zum Jüngsten – gehört werden sollte.

Versonnen warf Bruder Jona einen Blick auf die Kräuterbeete. Immer war ihm deren Verschiedenartigkeit ein Bild für die Mitbrüder gewesen. Würzpflanzen, ohne die die Gemeinschaftssuppe doch recht fad wäre. Heilpflanzen – in der richtigen Dosis – die sich auch mal als Giftpflanzen erwiesen … und jede brauchte eine ihrer Eigenart angepasste Umgebung. Viel oder wenig Sonne, viel oder wenig Humus, Wasser … In den letzten Wochen war das Gesicht des Abtes fahl geworden, sorgenvoll. Ob Kriegsgefahr das Kloster bedrohte? Bruder Jonas wusste es nicht, da er ganz allein auf dem Klostergelände seine Arbeit tat. Doch „was kann uns scheiden von der Liebe Christi?“, sprach er sich selbst Mut zu. Oder standen Bauarbeiten an? Die Schlafsääle platzten tatsächlich aus allen Nähten. Es war erfreulich viel Nachwuchs da, der noch einen Weg vor sich hatte, im Kloster einzuwurzeln.

Ach, man vergaß viel zu oft, seinen Vorgesetzten dankbar zu sein; für all die Bedrängnisse, die sie trugen und die ein einfacher Bruder gar nicht mitbekam. Seine eigene größte Bedrängnis war derzeit „häuslicher Unfriede“. Da er sich mühte, gut zu allen zu sein, wusste er um innere Konflikte. War es nicht auch jetzt so, dass sich schon Parteien bildeten, bevor der Abt sein Anliegen formuliert hatte? „Gut informierte Kreise“ liefen herum, als hätten sie die Lösung schon in der Tasche. Doch Jona wollte – nach oben offen – einfach hören. So wie er es als Knabe bei Vater Jakob hatte lernen dürfen.

Horch! Der Gong rief die Brüder zusammen. Ganz zittrig war heute sein sonst so runder Klang. Bruder Jona freute sich, dass selbst die Postulanten alle dabei sein durften.

Ganz still war es in der Statio. Die Mönche standen rechts und links, die Augen gesenkt, und schwiegen erwartungsvoll. Bruder Jona war überrascht über den schwungvollen und kräftigen Schritt von Vater Abt. „Zwölf“, hob er an, „zwölf Freiwillige suche ich.“

Nun hätte man eine Feder fallen hören. Warum sprach er nicht endlich weiter? „Ich suche Zwölf, die zusammen im Land der Kelten eine Neugründung wagen – nein, meldet euch nicht jetzt. Bedenkt es vor Gott. Ich suche nicht zwölf Einzelne, denn jeden von Euch weiß ich bereit. Ich suche Zwölf, die sich einigen können, wer sie führen soll. Drei Tage lang soll täglich nach Untergang der Sonne das Schweigen aufgehoben werden, damit ihr miteinander beraten könnt.“

Staunen lag auf allen Gesichtern. Staunen über den Mut des Vaters ihnen einen solchen Schritt zuzutrauen. Waren dort nicht lauter Heiden? Wo sollten die zwölf Mönche wohnen? Nun summte es in der Statio wie in einem Bienenstock. Ob wir unter uns Zwölf haben, die sich einigen könnten? Das war die Frage Bruder Jona bewegte. Und dann plötzlich fühlte er einen Stich in seinem Herzen. Heimweh.

Das gefühlte „Heimweh“ erfüllte zunächst Bruder Jonas Brust. Langsam leerte sich die Statio; das Summen der Stimmen seiner Mitbrüder wurde leiser. Als würden Bienen den Stock verlassen und ihr Summen mit ihnen nach draußen ziehen. Nach und nach breitete sich ein regelrecht körperlich spürbarer Schmerz von der Brust nach unten in Jonas Magen aber auch zur Seite in seine Arme aus. Er hätte nicht gedacht, dass die Konfrontation mit seiner Heimat und vor allem mit der großen Aufgabe, die Vater Abt ihnen dort zu tun aufgetragen hatte, ihn so stark treffen würde … So stand er da; unfähig zum nächsten Schritt und blickte weiter zum Fenster hinaus auf seine Beete. Auch sie waren ihm inzwischen vertraut geworden, lieb geworden, ans Herz gewachsen. Ja, das ganze Kloster – der regelmäßige Rhythmus von Gebet, Arbeit, Mahlzeiten, der die immer wieder auftauchenden Überraschungen des Alltags doch auffing, sie umrahmte, war ihm in den Jahren, in denen er hier nun schon lebte (es waren inzwischen immerhin fast 20 seit er um Aufnahme gebeten hatte!) wie zum „zweiten Atem“ geworden … Und das sollte er nun hinter sich lassen? Er erschrak, als seine langsam sich wieder in Bewegung setzenden Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren. Erst jetzt wurde ihm schlagartig klar, dass es in seinem Herzen nie einen Zweifel darüber gegeben hatte, dass er – der kleine Bruder Jona – unbedingt einer der Zwölf werden wollte.

Mit dieser Klarheit erschöpften sich vorerst seine körperlichen Kräfte und als er merkte, dass seine Knie ihm den Dienst zu versagen drohten, drehte er sich leicht und ließ sich langsam auf der Statio-Bank nieder. Ja, er wollte mitgehen! Ja, er wollte etwas von dem zurückgeben, was Vater Jakob ihn einst gelehrt hatte! Und: er wollte nun auch all die Schätze in seine Heimat zurücktragen, die er hier im Kloster sammeln durfte!

Bruder Jona barg sein Gesicht in den Händen und horchte in sein Herz. Da war kein „Eigenwille“, der ihn in selbstsüchtiger Weise trieb; und auch das Heimweh war nicht die eigentliche Triebfeder der Kraft, die er allein schon bei dem Gedanken an diesen Aufbruch spürte. Es war eine Gewissheit, die sich nun in ihm ausbreitete und der sein anfänglicher Schmerz und die noch vor kurzem so deutliche Erschöpfung nun langsam wich. Die Gewissheit, dass hier eine wirkliche Aufgabe auf ihn und seine Brüder wartete. Und sie wuchs. Jona spürte, dass sich nun etwas in ihm öffnete. Eine nie zuvor erlebte „Weite des Herzens“. Er hob den Kopf und atmete tief. Das war es: er stand unmittelbar vor der Stufe der nächsten; ja, der entscheidenden Etappe seiner eigentlichen Berufung! Mit diesem Erkennen hielt es Bruder Jona nicht mehr auf der Bank. Er sprang auf und fing an, in der Statio schnellen Schrittes auf und ab zu gehen. Die ganzen Jahre im Kloster kamen ihm nun plötzlich wie eine Ausbildungszeit vor; eine gezielte, geistgeführte Bildung seines Herzens und Wissens – genau auf diesen Weg zurück in seine Heimat hin! Er blieb stehen und ließ das Gefühl des Einswerdens mit seinem Weg, mit dessen „Rundwerdung“ sozusagen, ganz in sich einströmen.

Drei Tage nun sollte das Schweigen nach Sonnenuntergang ausgesetzt werden – so etwas hatte es in ihrem Kloster noch nie gegeben. Drei Abende mussten genügen, damit sich eine Gruppe seiner Mitbrüder so formierte, dass sie der heiligen „Zwölfzahl“ – der Zahl der Stämme Israels, der Zahl der Apostel Jesu Christi entsprachen! Nur so konnten sie diese große Aufgabe überhaupt beginnen … Wieder fing Bruder Jona an zu laufen … Nicht „zwölf Einzelne“ suchte ja der Vater Abt. Zwölf sollten es sein, die sich einigen könnten – und vor allem auch noch einigen darüber, wer sie führen sollte! Schon an dieser Stelle wurde Bruder Jona klar, dass viele Herausforderungen gemeistert werden mussten, noch bevor sie überhaupt in die keltischen Gebiete aufbrechen würden!

„Einigen, wer sie führen sollte“ … Der Klang dieser Worte erfüllte Bruder Jonas Kopf. Offensichtlich also wollte der Vater Abt sie nicht begleiten. Nicht auch nur wenigstens für eine kleine Zeitspanne den Pater Prior mit der Leitung des heimatlichen Klosters betrauen, um der Gruppe durch seinen erfahrenen geistlichen Blick zumindest das Anfangsstück ihres Weges zu erleichtern … Nein, es war unmissverständlich gewesen – er wollte sie aussenden! Allein!

Als Jona endlich wieder aus dem Fenster blickte, war die Sonne schon über den Zenit geschritten! Er hatte das Verrinnen der Zeit überhaupt nicht bemerkt. Schnell raffte er seine Kutte, ging eilends aus der Statio und lief auf seine Beete zu. Vor Sonnenuntergang musste er wenigstens noch die wichtigsten Gartenarbeiten erledigen und durfte natürlich auch bei der Vesper nicht fehlen. Heute Abend würde es beginnen. Das Schweigen würde für den ersten Abend ausgesetzt. Bruder Jona begann sich zu konzentrieren. Als er anfing, zu jäten entspannten sich wenigstens seine Hände etwas, sein Atem beruhigte sich und er trat in die vertraute Zwiesprache mit all den kleinen Wunderwerken der „Mutter Erde“, die unter seinen liebevollen und kundigen Fingern so prächtig gediehen. Sein Geist jedoch war ausgerichtet auf den heutigen Abend, der so ganz anders werden würde als die vielen anderen zuvor…

„Herr, hilf mir, heute abend ein Hörender zu sein.“ Mit diesem Stoßgebet verließ er den Garten. Als Ersten hörte er Magister Hubertus zu, der dozierte: „Auf jeden Fall braucht die Gruppe einen Schriftkundigen, sodann einen Arzt, einen Cellerar, einen Theologen … Alle jung, kräftig, erfahren.“ „Muss man dort nicht erst Bäume fällen? Vielleicht bräuchte es jemanden, der von der Landwirtschaft etwas versteht“, warf ein Novize ein, der eher davon etwas verstand. „Ich finde es nicht gerecht, wenn nur Kräftige mitdürfen. Wir haben doch gelernt, dass man sich nicht nur die fetten Schafe aussuchen soll“, meinte ein anderer.

„Fett, mager – ich jedenfalls bin leider zu alt“, seufzte Engelbert; aber sein Gesicht drückte eher Zufriedenheit darüber aus. „Den Bruder Engelbert hätte ich gerne dabei“, schoss es Jona durch den Kopf. „All die klösterlichen Traditionen trägt er in sich.“
Sie wechselten einen liebevollen Blick.

„Wenn der mitkommt, dann ohne mich!“ Jona konnte nicht orten, wer diese Worte gesprochen hatte. War da von ihm die Rede? Was für eine Gefahr lag doch darin, dass sie nun anfingen einander auszusuchen. Lag das Geheimnis klösterlicher Gemeinschaft nicht eben darin, sich zusammengefügt zu wissen vom Herrn? Und als Bruder Jona immer noch schwieg, schob er ein unwirsches: „Bis morgen Abend will ich Bescheid“ nach.

Jona entschlüpfte dem Raum. Er wollte in die kleine Seitenkapelle, die nachts immer offen blieb. Alleine sein – beten.

Er war überrascht und erleichtert, dort einige Brüder vorzufinden. Vor allem ältere. Saß da nicht auch Engelbert, trotz seiner Gliederschmerzen auf einer harten Bank? Eigentlich wollte er beten. Doch seine praktische Seite wandte sich der Frage zu, welche Samen, Ableger, Wurzelknollen er mitnehmen könne. Was würde dort wachsen? Welche Pflanzen würden die längeren Winter dort überstehen?

„Aber ich will gar nicht mit, Bruder Wunibald.“

Am Liebsten hätte Bruder Jona geantwortet: „Sie sollen doch nicht hinter Dir her gehen – die 10 Brüder – sondern sollen in aller Demut, Achtung und mit Liebe unserem Herrn Jesus folgen …“ Aber er antwortete nicht. Statt dessen senkte er den Kopf vor Bruder Wunibald und blieb still. Dieser blickte auf ihn herab und Bruder Jona fühlte sich weiter entfernt von der „Augenhöhe“ als jemals zuvor. Schließlich drehte sich Wunibald abrupt auf dem Absatz um und ging hinaus. Plötzlich war da wieder eine Erschöpfung zu spüren, die Bruder Jona fast zwang, sich in eine der Bänke gleiten zu lassen. Er sank in die Knie. „Herr, Einziger, ewig Barmherziger, König der Welt …“ Sein Gesicht in den Händen bergend betete er: „Herr, Du weißt alles. Du bist unendlich nahe. Du, mein Tröster. Du, Lenker unseres Lebens. Vor Dir brauche ich keine Worte zu machen. Du kennst meine Seele. Du weißt um alle Not. Herr, Du weißt, dass ich nie aufhörte, meine Heimat zu lieben. Nie habe ich aufgehört, Dir zu danken, für alles, was Du wachsen lässt, für alle Farbenpracht von Wiesen, Feldern und Wäldern; für allen Geschmack der Früchte, die Du wachsen lässt; für alle Kraft, die Du uns schenkst, uns mit dem Boden zu vereinen, um Brot von der Erde zu gewinnen; für allen Duft, der Blumen, die Dein Geist wachsen lässt – Herr, nie habe ich aufgehört, dankbar zu sein, für all das Leben, das Du schenkst. Und Du wirst es erhalten. Du, der Du Macht hast, die Herzen aller Menschen zu trösten. Sei uns allen nahe. Lass uns alle Deine guten Knechte sein. Mögest Du uns doch als Schenkende in dieses Land ziehen lassen, da wir doch Beschenkte sind; getragen von Respekt und Liebe.“ Als Bruder Jona den Kopf hob, waren seine Hände von Tränen nass. Er hatte nicht gemerkt, dass er weinte.

Am nächsten Tag arbeitete er wieder konzentriert und fleißig im Garten. Das warme Frühlingswetter half ihm. Er sang mit größerer Innigkeit als sonst die Psalmen und war am Abend äußerst wach. Jeder Nerv in ihm war angespannt; und doch lag in dieser Wachheit eine Ruhe.

Bruder Wunibald hatte an der Tafel vor dem Refektorium einen Zettel angebracht, dessen Aufschrift verkündete, dass alle, die sich vorstellen konnten, einer der Zwölf“ werden zu wollen, sich nach der Komplet im Kapitelsaal einfinden sollten. Auch hier spürte Bruder Jona einen Stich in seinem Herzen. Nun würden Mitbrüder wie Engelbert – die sich zu „alt“, zu „schwach“ oder sonst wie für „ungeeignet“ hielten, wohl nicht mehr kommen …

Doch als er langsam die schwere Klinke der Tür zum Kapitelsaal niederdrückte, sah er schon durch den ersten Türspalt hindurch in der hintersten Reihe Bruder Engelbert auf einem Stuhl sitzen. Auch eine ganze Reihe der anderen Älteren waren hier. Bruder Jonas Herz hüpfte vor Freude! Gut 40 Brüder füllten etwa die Hälfte des Saals.

Bruder Wunibald saß ziemlich weit vorne im Raum; tatsächlich in lockerem Halbkreis umringt von etwa 10 Mitbrüdern. Nun wurde Jona auch den Vater Abt gewahr – der völlig entgegen der sonstigen Sitte – unweit von Bruder Engelbert auf einem der hinteren Plätze saß und interessiert nach vorne blickte. Bruder Wunibald konnte einen deutlichen Anflug zunehmender Unsicherheit nicht verbergen. Erst als der Abt mit einer freundlich einladenden Geste seiner rechten Hand und einem warmen Lächeln Bruder Wunibald ein Zeichen tat, dass er ihn ohne Formalitäten frei gewähren lassen würde, erhob sich dieser und gewann rasch, seine Tatkraft und Selbstsicherheit zurück. Sein Körper straffte sich, er stand aufrecht. „Brüder!“, hob er an: „Brüder, ich danke euch! Danke, dass ihr gekommen seid!“

Er blickte in die große Runde. „Genau genommen sind wir schon fast vollzählig – die Antwort von Bruder Jona steht noch aus, den wir gerne als Übersetzer dabei hätten.“ „Wir auch“, sprach Bruder Martinus. Bruder Wunibald war verblüfft. In dem stillen Landarbeiter Martinus hatte er keine Führernatur vermutet. „Welches wir?“, fragte er. „Nun der Magister Hubertus hatte die Frage aufgeworfen, welche Fähigkeiten man für die Neugründung vereinen muss. Da habe ich halt unter den Handwerkern rumgefragt.“ Wunibald war erleichtert. Das klang nicht nach einer organisierten Gruppe. „Und euer Programm?“ „Das wird sich finden, wenn wir dort sind. Wenn die Zwölfzahl voll ist, wählen wir.“ Noch nie hatte Bruder Martinus so viele Worte an einem Stück sprechen müssen. Und er hoffte, es würde so bald nicht wieder nötig sein. Genau genommen hoffte er auf Bruder Jona – nicht nur als Übersetzer, sondern als Anführer. Ein Leben unter diesem demütigen, jungen Mann in einer kleineren Gemeinschaft, mit handfesten Leuten … Nach den ersten Anfangsanstrengungen könnte das eine gute Sache werden.

„Bruder Wunibald, du hast nach dem Programm gefragt. Kannst du uns deines vorstellen?“ Engelbert hatte diese Frage in den Raum geworfen. Wunibald kam nicht zu einer Antwort. Denn plötzlich sprachen alle zugleich. Jeder wollte anmerken, was bei der Neugründung dringend gebraucht würde: „Offenheit für die Umgebung“; „strengere Klausur“; „konsequentes Fasten“; „weniger Gebet, damit mehr Zeit für die Aufbauarbeiten blieb“; „mehr Gebet, dass die Kelten das monastische Leben so kennen lernten, wie es die Regel vorgab“ ….

Der Abt klopfte. Die Mönche schwiegen. Einige hofften noch auf ein klärendes Wort von seiner Seite, doch er gab ihnen nur seinen Segen für die Nacht. Sehr sicher fühlte sich Bruder Jona „von den Nachstellungen des Feindes“ allerdings nicht. Hatte nicht Hochmut ihn gepackt, weil beide Gruppen ihn dabei haben wollten? Und Wut und Ungeduld mit seinen Brüdern, weil sie einander nicht zuhörten?

Wenn er an die Gruppe um Martinus dachte, fragte er sich, ob ihnen nicht klar war, dass auch hier im Kloster ein Zimmermann von Nöten war. Warum hatte Vater Abt nicht vernünftig ausgewählt? Dieses ewige Gerede konnte unmöglich bis zum nächsten Abend zu einer ausgewachsenen „Missionsmannschaft“ führen.

Ja. Hochmut war es, dass er jetzt über die ideale Zusammensetzung der Gruppe nachdachte. Und Scham überfiel ihn, als ihm aufging, wie sehr persönliche Gründe hineinspielten in seine „Auswahl“.

Jona suchte Zuflucht in der Bibel. Gottes Auswahlverfahren war irgendwie anders. ER erhöhte die Niedrigen.

Die Zuflucht im Wort stimmte ihn wieder zuversichtlich. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Der dritte Tag.

Da klang gleich die Befreiung aus dem Bauch des Fisches mit – wenigstens für jene, die Jona heißen. Und die Auferstehung des Herrn. Wie viel Trost lag doch darin, dass der Herr immer wieder all unsere Erwartungen überbot. Dass ER Wege schuf, wo wir nur Ausweglosigkeit wahrnehmen.

Endlich kam der Schlaf dann doch.

Am nächsten Morgen stand Bruder Jona schon unruhig auf. Als er sich bei den „Laudes“ erhob, der Kantor Bruder Basilius, das „Domine, labia mea aperies …“ sang, war er froh, mit „et os meum annunciabit laudem tuam“ antworten zu können. Er atmete aus. Ja, darum bat er besonders heute wirklich, dass „der Herr seine Lippen öffnen möge“ (nicht er selbst) und dass „sein Mund SEIN Lob verkünden möge“ (nicht sein eigenes). Niemals wollte er bewusst hochmütig handeln. Er wollte doch Diener sein, wirklich dienstbereit, hörend, eins mit SEINEM Willen. Nur so konnten die Dinge wachsen. ER brauchte uns doch – als dialogbereite „Mitarbeiter“. Es fiel Jona an diesem Tag sogar schwer, sich auf die Arbeit im Garten zu konzentrieren. Immer wieder sprang er plötzlich auf, ging einige Schritte hin und her, blieb ebenso plötzlich wieder stehen und dachte nach.

Schon länger nicht mehr hatte Jona die Komplet mit solcher Inbrunst gebetet, wie an diesem Abend. Wieder drückte er die Türklinke zum Kapitelsaal langsam nach unten. Würden die selben Mitbrüder hier sein, wie gestern? Fast zögernd schob sich Jona durch den Türspalt und wurde als Ersten Bruder Basilius gewahr. Als die Zahl der Brüder wieder auf rund 40 angewachsen war, die Sitzordnung ungefähr der vom Vortag vergleichbar wurde (der Kreis um Bruder Wunibald hatte wieder die vorderen Plätze eingenommen und saß abermals im lockeren Halbkreis um ihn herum; der Vater Abt blickte erneut von einem der hinteren Sitze interessiert nach vorne); erhob sich überraschend Bruder Basilius und verkündete in die nun leiser werdenden Stimmen seiner Mitbrüder hinein: „Es wäre mir ein Anliegen, mit einem Hymnus um den Heiligen Geist den heutigen letzten und wohl entscheidenden Abend zu beginnen.“ Alle nickten zustimmend. Mit weicher, sonorer Stimme fing Basilius nun an, den Pfingsthymnus zu singen. Immer mehr Brüder fielen ein. Schließlich war der Kapitelsaal erfüllt vom volltönenden Klang ihres Gesangs. Als sie geendet hatten, trat ein konzentriertes Schweigen ein.

Nun war es Bruder Martinus, der abermals für Überraschung sorgte, indem er sich auch an diesem Abend – gleich zu Beginn – entschlossen hatte, erneut zu sprechen. „Brüder“, setzte er an; „Brüder, ihr wisst, dass der Herr mir nicht eine Zunge zu langen, gewandten und gescheiten Reden gab. Und doch glaube ich einfach, wir brauchen Handwerker, zum Bau dieses neuen Gotteshauses.“ „Ich denke, das hatten wir gestern bereits festgestellt“, fiel ihm von der gegenüberliegenden Raumseite Bruder Lukas ins Wort. Bruder Lukas war einer derjenigen aus der Reihe der Handwerker-Brüder des Klosters, die Martinus zwei Tage zuvor tatsächlich bereits angesprochen hatte, ob sie sich eine Beteiligung am Aufbruch in die keltischen Gebiete vorstellen könnten. „Richtig“, ließ sich da Martinus erneut vernehmen; „aber nun drängt die Zeit …“ Er wippte unruhig von einem Bein auf das andere und verkrampfte seine Hände. „Nun“ – ermunterte ihn da plötzlich Bruder Wunibald – „es sieht so aus, als hättest Du einen Vorschlag; sprich also!“ Bruder Martinus wechselte abrupt die Gesichtsfarbe, wurde rot und fuhr sich mit der linken Hand nervös durch die Haare. Das Weitersprechen kostete ihn nun sichtbare Anstrengung. „Ja“, brachte er mühsam hervor, „ich möchte den Vorschlag machen, dass seitens der Handwerker und Landarbeiter je 6 Mitbrüder und seitens der Gelehrten und Schriftkundigen je 6 Mitbrüder gewählt werden.“ Er holte tief Luft und fügte hinzu: „Denn ein Haus Gottes muss aus geistigen und materiellen Steinen gleichermaßen erbaut werden. Lehm von der Erde und die Gabe der Einsicht vom Himmel …“ Er blickte nun zu Boden. Noch nie hatte er so offen über seine Gedanken gesprochen; und schon gar nicht vor so großer Zuhörerschaft. Stille lag im Raum. Nicht wenige waren überrascht, über diese weisen Worte; die wohl kaum jemand ausgerechnet aus dem Munde von Bruder Martinus erwartet hätte.

„Hast du dir vielleicht auch sogar noch überlegt, wer diese Auswahl treffen soll?“, ließ sich da Bruder Wunibald vernehmen; und es war nicht mehr eindeutig festzustellen, ob seine Stimme aus Verwunderung oder Neid etwas lauter geworden war. „Nun“, setzte da nach einer kurzen Stille Bruder Martinus erneut an, „ich fände es treffend, wenn die Auswahl der Gelehrten von Bruder Hubertus als Magister und Dir als Priester und Bibliothekar; und die Auswahl der Handwerker von Bruder Stephanus als Cellerar und Bruder Lukas als Zimmermann getroffen würde“. Schier mit letzter Kraft holte er noch einmal Luft und schloss: „Also jeder 3.“

Nun setzte schlagartig das Stimmengewirr wieder ein. Das laute Summen, das schon bei der Ankündigung dieser Mission nach den Worten des Abtes einsetzte, wiederholte sich nun.

Auch diesmal konnte der Abt durch sein Klopfen alle Anwesenden zum Schweigen bringen. Es dauerte allerdings etwas länger als am Vortag, bis alle sich beruhigt hatten. „Seid ihr Vier bereit, die Wahl zu treffen?“ Der Abt hatte sich vom Stuhl erhoben und blickte in die Runde. „Nun? – Bruder Hubertus?, Bruder Wunibald?“ Jetzt war die Stille vollkommen im Raum. Nicht einer wagte auch nur zu husten. Langsam erhob sich Bruder Hubertus und betrat die Mitte des Kapitelsaals. Wunibald tat es ihm gleich. „Und?“ sagte der Vater Abt – nun eine deutliche Spur lauter und mit klarer Autorität – „Bruder Stepanus?, Bruder Lukas?“ Vor allem Bruder Lukas wurde nun etwas blasser, als er ohnehin schon war. Noch nie hatte der Vater Abt ihn mit einer Entscheidung betraut. „Ich weiß nicht …“ ließ er sich da schüchtern vernehmen und verbarg seine beiden großen Hände eilends unter der Kutte. „Was gäbe es da nicht zu wissen?; du bist ein guter und erfahrener Handwerker. Man schätzt deine gleichermaßen zupackende wie umsichtige Art, sowohl mit dem Baumaterial wie auch mit den dir zugewiesenen Hilfskräften umzugehen. Du kennst deine Brüder, mit denen du lange und gut zusammengearbeitet hast!“ Gleichzeitig lagen hier Lob und Tadel vor ihm. Die Freude über dieses große Lob jedoch, das der Vater des Klosters hier sozusagen erstmals in aller Öffentlichkeit über seine Arbeit ausgesprochen hatte, gab Bruder Lukas die Kraft aufzustehen. Zusammen mit Bruder Hubertus betrat er nun ebenfalls die Mitte des Kapitelsaals.

„Wie klug, wie überaus klug“, dachte Bruder Jona und freute sich, dass die Tugend nun half, die Gruppe zu bauen. Ein gut ausgewähltes Fundament. Die Vier blickten in die Runde. Keiner mochte so recht den Anfang machen. Zwar hatte jeder in seinem Bereich einen Blick für die Schwächen und Qualitäten der Anderen. Aber nun offen die Namen zu nennen war nicht leicht. „Es ist ja auch die Frage, wie es zu Hause weitergeht ohne die Zwölf“, stellte Lukas erst mal halb verlegen in den Raum. Plötzlich ging die Tür auf und ein Knabe stolperte herein. Er hatte seine ganze Kraft für die schwere Eichentür gebraucht und darum das Gleichgewicht verloren. Errötend erhob er sich. „Es tut mir leid“, murmelte er. Alle schauten ihn so fragend an, dass ihm schien, er müsse weiterreden. „Ich bin Daniel. Eigentlich wohne ich noch im Gästetrakt und vielleicht hätte ich noch gar nicht hineingedurft in die Klausur. Aber ich will mit!!“ Die letzten Worte kamen laut, fast trotzig.

„Warum?“, fragte Bruder Hubertus ruhig. Er kannte den Knaben; 13. Sohn einer Bauersfamilie, der Einlass ins Kloster suchte aus purer Not.

„Jeden Tag beten, immer am gleichen Ort. Ich bin jung und möchte etwas von der Welt sehen bevor ich sterbe. Das Meer …“. Er stockte; holte noch einmal tief Luft: „Zu essen brauche ich fast gar nichts und schlafen kann ich auch überall.“ Vater Abt erhob sich. Würde er jetzt losdonnern, weil der Knabe eine Mission mit einem Abenteuerausflug verwechselte? Mühsam und doch schnell erhob sich Bruder Engelbert: „Mir geht es ebenso. Zwar bin ich alt; aber noch einmal reisen … Das Land sehen, das mir Bruder Jona so farbenprächtig ausgemalt hat; damals, als er noch so jung war, wie dieser Knabe, wie Daniel.“ Viele erhoben sich und bekannten ihre Abenteuerlust. Vater Abt schmunzelte. „Ich wollte Daniel nur meinen Platz anbieten. Er ist gut gewählt zum Beobachten. Und ich weiß ja, dass ich meiner Abenteuersehnsucht nicht folgen darf.“ Er verließ den Raum.

Nun hätte die Wahl weitergehen können. Doch Bruder Jona erhob sich und trat in die Mitte: „Knaben haben den Vorzug, eine fremde Sprache schnell zu lernen. Ältere Brüder haben den Vorzug, Entscheidungen mit viel Lebenserfahrung zu fällen. Starke Brüder – jeder kennt ihre Vorzüge. Aber auch die Schwachen …“ Bruder Jona wusste nicht recht, wie er deren Vorzug formulieren sollte. „Sie tragen die Gemeinschaft, indem sie sich getragen wissen.“ „Und dann gibt es Pflanzen, die in neuer Erde vortrefflich gedeihen. Und andere, die eingehen, wenn man sie aus dem gewohnten Erdreich entfernt.“ Einige der älteren Brüder senkten die Köpfe.

„Sollten wir also das Los werfen?“, spottete Bruder Wunibald. Bruder Kilian erhob sich. Er war ein frommer Mann. Aß kaum, trank kaum, schlief kaum. „Mission wird nicht mit der Hand und nicht mit dem Kopf gemacht. Es ist das Herz, das gläubige Herz. Wir sollten unsere Herzen prüfen, ob der Herr uns zu dieser Aufgabe ruft. Ich für meinen Teil höre, dass ich selber nicht gehen soll, sondern dass ich die, die aufbrechen werden, im Gebet begleiten soll.“ Er ging auf die Tür zu. Es war, als hätte er ein allgemeines Zeichen zum Aufbruch gegeben. Viele erhoben sich.

„Bruder Martinus, ich habe Deine Rechnung noch nicht verstanden. Warum hast du gesagt, jeder soll 3 wählen. Mit denen, die wählen, sind es ja dann erst 10?“, flüsterte Bruder Jona zu Bruder Martinus hinüber.

Bruder Martinus beugte sich zu ihm: „Nein, Bruder Jonas, das hast Du falsch verstanden; Bruder Hubertus und Bruder Wunibald sollen je 3 aus den Reihen der Gelehrten wählen, dann sind es 6 Brüder; und Bruder Stephanus und Bruder Lukas sollen je 3 aus den Reihen der Handwerker und Bauern wählen – also noch mal 6. Auf diese Weise haben 4 Brüder 12 ausgewählt … ich finde es besser, wenn die Last der Verantwortung über die Auswahl auf diese Weise auf mehrere Schultern verteilt wird.“ Jetzt nickte Bruder Jona anerkennend.

Durch diese kurze Unterhaltung jedoch waren sie beide abgelenkt gewesen, vom weiteren Verlauf der Dinge.

Inzwischen waren fast die Hälfte aller Anwesenden gegangen und nur noch etwa knapp über 20 Brüder bildeten ein kleines, fast verlorenes Grüppchen im Kapitelsaal. Immer noch standen Bruder Hubertus, Wunibald, Stephanus und Lukas in der Mitte. Der Kreis derjenigen aber, aus denen sie nun noch wählen konnten war fast allzu licht geworden …

Nun ließ sich plötzlich wieder Bruder Basilius vernehmen (es war selten, dass man ihn nicht singen hörte, wenn er den Mund auftat): „Also mich hat sehr beeindruckt, was Bruder Jona vorhin gesagt hatte; über die Vorzüge der Jungen, sich auf Neues einzustellen und noch viel dazuzulernen, über die Vorzüge der Alten mit ihrer Lebenserfahrung und Weisheit, über die Vorzüge der Schwachen, welche die Gemeinschaft tragen, weil sie sich getragen wissen … Mir kommt das vor wie eine Symphonie in der jedes Instrument seinen besonderen Klang, seine ganz eigene Stimme und den Platz im Orchester einnimmt, der von keinem der anderen Instrumente gefüllt werden kann …“ „Und was willst Du uns konkret damit sagen?“, unterbrach erneut Bruder Wunibald, der nun von seinem Platz in der Mitte aus ungeduldig von einem Bein auf das andere trat. „Dass ich einen Antrag zur Abstimmung darüber stellen möchte, dass Bruder Jona die Leitung der Gruppe übernimmt“, stieß Basilius nun hervor, „denn er hat außerdem noch die besten Kenntnisse von Sprache und Kultur der Menschen.“

Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus. Bruder Jona wurde in die Mitte des Raumes gedrängt. Doch sein Gesicht verriet keine Spur von Freude. Eher stand darin Ratlosigkeit geschrieben. Jona konnte sich selber nicht verstehen. Antwortete dieser Vorschlag nicht auf seine uneingestandenen tiefen Wünsche? Und doch lief da etwas verkehrt. Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn.

„Warum er und nicht ich?“. Das war Bruder Wunibald. „Gerade ist mir klar geworden, welche Handwerker ich auswählen würde“; das wahren die ruhigen Worte von Bruder Lukas.

Inzwischen zupfte Daniel Bruder Engelbert am Ärmel: „An wen muss ich mich halten, wenn ich mit will?“ Bruder Engelbert schwieg. Seine Augen richteten sich auf das Kreuz; doch ob der Junge diesen unauffälligen Hinweis verstehen konnte, wusste er nicht. Doch als er sich mühsam erhob, reichte ihm Daniel wie selbstverständlich den Arm. Langsam verließen die Beiden den Saal. Achtsam hielt Daniel die schwere Tür, so dass sie sich leise schloss.

Hinter ihnen ein Gewirr von Stimmen. „Wunibald“, riefen einige im Chor. Bruder Basilius war überrumpelt. Er hatte nicht mit so heftigen emotionalen Reaktionen der Brüder gerechnet. Auf Bruder Jona zugehend sagte er: „Das wollte ich nicht. Ich dachte nur … Du bist ja ganz blass.“

Tatsächlich war alle Farbe aus dem Gesicht von Bruder Jona gewichen. Er hörte nur noch Wortfetzen: „… nicht einmal lesen“; „… schon zehn …“; „… schnell beschließen.“ Bruder Martinus war es, der ihn im Zusammensinken mit seinen kräftigen Armen auffing. Als er den Ohnmächtigen auf die erste Bankreihe bettete, öffnete er die Augen. Doch er sah nicht den Kapitelsaal. Er sah Vater Jakob durch das helle, offene Land vor sich herschreiten. Und wie es ihm schon als kleinem Buben ergangen war, so ordneten sich auch jetzt seine Gedanken. Im Raum war es merkwürdig still. Es lief auch niemand nach Wasser. „Vater Jakob, ich wollte der Erste sein. Doch diese Schwäche – ich konnte sie bei mir nicht erkennen, weil ich sie so scharf beim Anderen sah. Den Splitter. Bei mir ist es ein Balken. Vater – hilf mir umzukehren.“ Jona fühlte sich plötzlich ganz leicht, wie schwebend. Er realisierte gar nicht, dass Bruder Martinus ihn trug. Der wollte mit Bruder Jona ins Krankenzimmer. Nie hat er begriffen, warum seine Füße einen anderen Weg einschlugen und wie er mit dem Kranken in die Kapelle gelangt war.

Bruder Wunibald stand wie vom Donner gerührt. Da bekannte jemand seine Sünde. Noch nie hatte er sich so bis in sein Innerstes geschämt. Es war ihm plötzlich vollkommen gleichgültig, wer die Gruppe führen würde.

Die Brüder hatten einzeln und in kleinen Gruppen den Raum verlassen. Als Bruder Lukas sah, dass Bruder Wunibald alleine zurückblieb, blieb er stehen und hielt ihm die schwere Eichentür auf. Sie wechselten einen Blick. Und Bruder Wunibald las Ruhe und Zuversicht in den Augen von Bruder Lukas. Und er fühlte eine bisher nie gekannte Dankbarkeit, dass dieser da sein Bruder war und auf ihn gewartet hatte. Dass dieser Bruder ihm mit Achtung begegnete; in diesem Moment, in dem er vor Scham vergehen wollte. Etwas Befreiendes lag in diesem Blick und machte Bruder Wunibald Mut. Fast schon wieder zielstrebig wandte er sich zur Eckkapelle. Er wollte seinen Ehrgeiz zerschmettern an Christus; er wollte sich SEINER Führung anvertrauen.

Auch hier hielt ihm Bruder Lukas die Tür auf. Gesammelte Stille umfing sie. Bruder Jona war schon wieder etwas zu Atem gekommen, als er Bruder Engelbert mit dem Jungen wahrnahm. Dahin waren sie also verschwunden.

Der Kelch stand auf dem Altar. Wie merkwürdig; sie hatten doch nie in dieser Kapelle eine Messe gefeiert. Es brannten auch die Kerzen. Träumte er etwa schon wieder?

Die Glocke läutete. Zu stark war in den Mönchen die Gewohnheit, sich bei diesem Klang zu erheben. Und niemand wunderte sich mehr, als Vater Abt aus der winzigen Sakristei, die gar keinen eigenen Eingang hatte, einzog. Bruder Basilius stimmte das „Kyrie“ an. „Herr, erbarme Dich“ – es war genau das, was alle Anwesenden in ihrem Herzen trugen. Und nun? Fragend schaute Bruder Basilius zu Vater Abt. Hatte er sich sein Nicken nur eingebildet? Egal – als Mönche waren sie doch zum Gotteslob bestimmt. Er machte mit dem „Gloria“ weiter.

Nach der Kommunion sprach Vater Abt: „Und nun gibt es noch den Reisesegen für die zwölf hier anwesenden Mönche – für die 11 und unseren neuen Postulanten Daniel. Ich danke Gott, dass ER euch erkennen ließ, dass da nur EINER ist, DER führt – ER, der DREIFALTIGE selbst.“

Alle knieten nieder und der Abt nannte die Namen derer, die auf die große Reise gehen sollten.

Seligpreisungen Mariens

Selig, die grenzenlos vertrauend
die Liebe in sich wachsen lässt.

Selig, du allezeit Begegnungsoffene.

Selig, die fraglos glaubt und angstlos fragt.

Selig, du Einfallstor Gottes in die uns sichtbare Welt.

Selig, die allen beisteht, die guter Hoffnung sind.

Selig, du in Lauterkeit geliebte Braut.

Selig, die alle Dahergelaufenen empfängt,
ihre Freude teilend, die sie eilend weiter teilen.

Selig, du bis in die fernsten Fernen Aufbruch
und Naherwartung Wirkende.

Selig, die Anteil gibt an ihrer Seligkeit, an IHM immerdar.

Selig, die du Begegnende zu Boten machst.

Selig, du um seinetwillen verfolgte Gottesbeschützerin.

Selig, die du den Sohn legst in die Arme des Sehnenden.

Selig, du Menschenkind und Gottesmutter.

Selig, du mitleidende Miterlöserin.

Selig, du Gastgeberin im Herzen der Dreifaltigkeit.

Selig, die umkehrt den Sohn zu suchen
und ihn findet Haus des Vaters.

Selig, du IHN bergend in IHM geborgenen Mutter und Braut.

Selig, du den Hirten hütende Hirtin.

Selig, die du im Herzen wägend auf IHN hören lehrst.

Selig, du erste Fürbitterin der Hochzeitsfülle.

Selig, du Braut, die mit dem Geist ruft: „Komm!“

Selig, durch die uns Gnade zukommt.

Selig, du Tochter Abrahams,
in der sich Verheißung und Erfüllung begegnen.

Selig, du ständig sprudelnder Quellgrund des Lebens.

1. Krippengeschichte

Aufbruch der Könige

König Caspar lebte in Afrika. Er war der König eines großen Stammes. Aber er war nicht froh darüber. Zuviel Schweres war ihm widerfahren. Sein einziger Sohn war von einer Schlange gebissen worden und daran gestorben. Und als endlich sein zweites Kind geboren wurde starb seine Mutter bei der Geburt. Es war ein Mädchen. Sie kam mit einer großen Beule auf dem Kopf zur Welt.

So wuchs die Königstochter also als Einzelkind heran. Sie lebte nicht in einem Königsschloss, sondern in einer großen Hütte aus Zweigen. Auch nicht mit vielen Dienern, sondern mit ihrem Vater und ihrer Großmutter. Und natürlich mit dem zahmen Elefanten. Auf dem ritt ihr Vater, König Caspar, wenn er benachbarte Könige anderer Stämme besuchte. Dafür wurde der Elefant festlich geschmückt. König Caspar saß am Rücken des Elefanten auf einer Art Thron. Und vorne, fast am Kopf des Elefanten, saß Elibarika, so dass sie ihn mit ihren Füßen lenken konnte.

DSC_1669Zu dieser Zeit starben viele Kinder, solange sie noch ganz klein waren. Darum gab man ihnen erst später ihre richtigen Namen. Am Anfang nannte man sie nur mit einem Kosewort. Und das Mädchen mit der Beule wurde „Beulchen“ gerufen, denn die Beule blieb ihr, auch als sie älter wurde. Ihr richtiger Name war Elibarika. Doch auch als sie älter wurde rief sie fast niemand so. Eigentlich nur ihre Großmutter – die Mutter ihrer Mutter. Sie war wohl die älteste Frau im ganzen Stamm. Niemand wusste genau, wie viele Regenzeiten sie schon gesehen hatte. Auch wenn ihr Augenlicht erloschen war, konnte die Großmutter noch immer prächtige Körbe flechten. Und sie konnte Geschichten erzählen! Man nannte sie „Gedächtnis des Stammes“, denn sie trug alle alten Geschichten in ihrem Herzen. Und Abend für Abend zog sie eine ihrer Geschichten aus ihrer Erinnerung hervor, umringt von Männern, Frauen und Kindern, die ihren Worten lauschten. Jeder Stamm hatte seine eigenen Geschichten, aber in Großmutters Gedächtnis waren auch fremde Geschichten aufbewahrt. Denn es kam immer wieder vor, dass aus der Ferne Geschichtenerzähler kamen. Und so soll es auch vor vielen Jahren gewesen sein.

Der Mann, der die Geschichte gebracht hatte, war hellhäutiger als die Männer im Dorf. Und noch mehr unterschied er sich von ihnen durch sein glattes braunes Haar. Großmutter behauptete, dass sie damals noch fast so jung und neugierig gewesen sei wie Elibarika heute. Und darum habe sie das Haar sogar angefasst. Weich und glatt sei es gewesen. Nicht hart und kraus. Folgendes hatte der Mann erzählt – damals, vor vielen Jahren. Es war wohl eine Rätselgeschichte:

Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn lässt sich auf ihm nieder: Der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Er richtet nicht nach dem Augenschein, und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. ER schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes. Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt am Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange.

Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel – Gott mit uns – geben.

Den Schluss der Geschichte erzählte die Großmutter immer etwas zögerlich, wohl weil sie wusste, dass dieser Satz zu einer anderen Geschichte gehörte. Vielleicht auch, weil die erwachsenen Leute sich an dieser Stelle zuzwinkerten. Ihre Augen sagten: „Das kann nicht sein. So etwas gibt es nicht auf dieser Welt.“

Dann war Elibarika ein kleines bisschen traurig, dass sie dieses Erwachsenengeheimnis wie die Kinder auf die Welt kommen, noch immer nicht ganz verstanden hatte. Wirklich, sie verstand auch nicht, warum ihre Großmutter diese Geschichte gerade immer dann erzählte, wenn ihr Vater besonders traurig war. Sollte sie dann nicht lieber eine Geschichte von dem erzählen, der die Welt gut geschaffen hat?

Diese Geschichten mochte Elibarika. Aber sie ärgerte sich auch darüber. Hatte die Großmutter doch gesagt, dass Geschichten mit Lebenserfahrung zu tun haben.

Natürlich war es schön, die Tochter des Königs zu sein. Es war wunderbar auf dem Elefanten zu reiten, von dessen Rücken sie auch Früchte von hohen Bäumen pflücken konnte. Aber es war nicht schön und gut, dass ihr Bruder nicht am Leben war. Und dass sie nie ihre Mutter kennen gelernt hatte.

Manchmal, wenn sie mit anderen Mädchen aus dem Dorf Mangos ernten ging, dann nahmen ihnen die Jungen, die stärker waren als sie, die großen Früchte weg. Und sie konnten sich nicht wehren. Und wenn Elibarika dann richtig wütend wurde, riefen sie Spottnamen hinter ihr her: „Beulchen, Beulchen – heul schön, heul schön.“ Und obwohl sie so fest vor hatte, nicht zu weinen, weinte sie dann doch. Und das schien die Buben besonders zu freuen.

Elibarika hatte die Nase schon geputzt bevor sie in das Zelt der Großmutter kam. Heute würde sie fragen, wieso sie glaubte, dass die Welt gut geschaffen sei. „Sei nicht traurig, Kind“, grüßte die Großmutter. Und Elibarika wunderte sich. „Du kannst doch gar nicht sehen, dass ich geweint habe.“ „Natürlich weiß ich, dass du traurig bist. Er, der die Erde gut gemacht hat, hat mir, als ich das Licht meiner Augen verloren habe, die Gabe gegeben, den Menschen in die Herzen zu sehen.“ – „Du bist also nicht wütend, dass du nicht mehr sehen kannst, dass deine Tochter nicht mehr lebt, dass du keinen männlichen Enkel hast?“ brach es aus Elibarika heraus.

Lange schwieg die Großmutter. Es war wohl eine schwere Frage, die an viel Schweres erinnerte. Fast tat es Elibarika leid, dass sie so direkt gesprochen hatte. Sie wusste, dass man eine solche Frage mit vielen Höflichkeiten hätte einkleiden müssen. Oder erst gar nicht davon anfangen.

Nach einer Weile sagte die Großmutter:„Er nimmt und gibt. Nur erkennen wir oft nur, was er nimmt. Dann sind wir wütend. – Die Tochter hat er mir genommen. Und dich hat er mir gegeben. Und dein Brüderchen – siehst du, ihn hat eine Schlange gebissen. Und bestimmt hätte ihn ein Heilmittel retten können. Aber wir forschen nur nach Giften für Pfeile und Kriege, darum kannten wir das Heilmittel nicht. Das ist dann die Verantwortung von uns Menschen. Gib dir Mühe, Kind, das Gute zu erkennen, das der Schöpfer der Welt gemacht hat. Und vertraue darauf, dass es da ist.“

Elibarika umarmte ihre Großmutter. Und auch wenn sie dafür eigentlich schon zu groß war, setzte sie sich auf ihren Schoß. Dann legte sie ihr zwei kleine Mangos in die Hände. „Seltsam, dass die Früchte immer kleiner werden“, wunderte sich die Großmutter. „Dabei hat es genug geregnet in diesem Jahr.“

Da begannen bei Elibarika wieder die Tränen zu fließen. „Die großen Jungen nehmen uns die großen Früchte weg. Und dann spotten sie über meine Beule. Man sieht sie gar nicht unter dem offenen Haar, aber ich kann mir nie schöne Frisuren machen wie die anderen Mädchen. Meinen Kopf hat der, der die Welt geschaffen hat wirklich nicht gut gemacht.“

Elibarika war vor Erregung aufgesprungen. Richtig wütend wurde sie aber erst, als ihre Großmutter auch noch über sie lachte. Wütend rannte sie davon.

„Hast du deine Ohren wiedergefunden Beulchen“, fragte Großmutter, als sie gegen Abend wieder zu ihr in die Hütte kam, um sich zu entschuldigen. Doch weil sie Beulchen gesagt hatte, schwieg Elibarika.

„Es tut mir leid, dass du dich ausgelacht fühltest, Kind. Ich habe gelacht, weil mir plötzlich klar wurde, dass du wirklich nicht weißt, welche Gaben du in deinem Kopf hast. Der Kopf ist der Ort, wo die guten Ideen entstehen. Und wo man die Lösung für schwere Probleme finden kann. Und in jeden runden Kopf passt davon eine bestimmte Menge. Und du hast nun diese Beule. Ist dir nie aufgefallen, dass dir auch dann noch etwas einfällt, wenn keiner mehr eine Lösung weiß?“ –

Ganz unrecht hatte die Großmutter nicht. Neulich zum Beispiel hatte sie die Idee, die Mangos zu verstecken und stattdessen Steine im Tuch nach Hause zu tragen. Wie hatten da die Buben dumm geschaut! –

Elibarika war getröstet. Fortan würde sie sich auf ihre Beule verlassen. Vielleicht konnte sie ja nicht nur ganz kleine, sondern auch größere Probleme lösen? Vielleicht konnte sie ja die Rätselgeschichte lösen, die der Geschichtenerzähler aus der Ferne mitgebracht hatte.

Der Anfang war gar nicht so schwer. Sie war ziemlich sicher, dass es um einen Königssohn ging. Der wurde zu einem wirklich gerechten König. Und das war schwer. – Sie sah es an ihrem Vater, wie schwer das war. Alle kamen mit ihren Sorgen. Und es war nicht so leicht zu erkennen, wer die Wahrheit sagte und wer nur einen Vorteil für sich wollte. Aber diesem Königssohn schien der, der die Welt gut geschaffen hat ganz direkt zu helfen.

Trotzdem – der Wolf würde das Lamm fressen. Der Panter das Böcklein, der Löwe das Kalb. Auch wenn es einen Königssohn gäbe, der gerecht wäre – niemals würde ein Löwe sich herablassen Stroh zu fressen.

Elibarika verzog sich auf den Affenbrotbaum, der neben der Hütte ihrer Großmutter stand. Sie versuchte ihre Beule zu aktivieren. Sie dachte nach. Sie machte ein Lied aus den Worten der Geschichte und sang sie vor sich hin:

„Dann wohnt der Wolf beim Lamm, tam tam
der Panther liegt beim Böcklein,
der kleine Knabe hütet sie
und braucht nicht mal ein Stöcklein.

Kalb und Löwe gemeinsam weiden.
und Kuh und Bärin können sich leiden.
Ihre Jungen liegen zusamm, tam tam.“

Beim Singen konnte sie besser nachdenken. Sie konnte die Bilder vor sich sehen. War das nicht ein Lied über Menschen, ein Friedenslied?

Plötzlich wurde sie hochgeschreckt. „Ihr Schlangen“, hörte sie Großmutters Stimme. Und sie sah die beiden Jungen, die den Mädchen so oft die großen Früchte wegnahmen, mit einem Korb davon flitzen. „Wollt ihr mir die Früchte verkaufen, die ihr meiner Enkelin weggenommen habt?“

Plötzlich begriff Beulchen. „Schlangen“ hatte Großmutter gerufen. Und gemeint hatte sie die beiden Jungen. Vielleicht waren alle diese in der Geschichte genannten Tiere ein Bild für den ersehnten Frieden unter den Menschen, den dieser Königssohn bringen würde. – Damit hatte sie das Rätsel gelöst. Denn der letzte Satz, den die Großmutter der Geschichte hinzugefügt hatte schien ihr völlig logisch:

„Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen. Sie wird ihm den Namen Immanuel geben – Gott mit uns.“

Auch ein Königssohn kommt als Kind auf die Welt. Aus dem Bauch der Mutter – soviel hatte Elibarika schon herausgefunden von den Erwachsenengeheimnissen. Und dieses Kind war in den Bauch hineingekommen durch den, der die Erde geschaffen hatte. Bestimmt trug es die Vorstellung in seinem Herzen, wie der Schöpfer die Erde gedacht hatte, und konnte es den anderen Menschen erklären. Auf diese Weise würde er die anderen Könige lehren, wie man gerecht regiert und miteinander in Frieden lebt. Immanuel – Gott mit uns. – Logisch – durch ihn – den Königssohn – wird ja wirklich Gott mit uns sein.

„Großmutter, Großmutter“. So schnell war Elibarika noch nie vom Baum geklettert. Ihre Worte überstürzten sich, weil sie ihren ganzen langen Gedanken auf einmal sagen wollte. Sie vergaß alle Regeln der Höflichkeit. Vor Aufregung fiel ihr nicht einmal auf, dass ihr Vater und ein fremder Gast bei der Großmutter waren. Und dass sie in deren Gegenwart nicht einfach darauf los reden durfte.

„Wo kam der Geschichtenerzähler her, der dir einst die Geschichte von Löwe und Lamm erzählt hat? – Wir müssen dorthin. Alle Könige müssen dorthin. Sie müssen die Jungfrau suchen und das Kind. Es wird sie lehren, wie wir Menschen in Frieden leben können. Vater wird ein guter und fröhlicher König werden!“

Atemlos hielt sie inne. Wer war denn dieser schön gekleidete Fremde? Bestimmt wurde Vater jetzt böse, weil sie wie ein Wirbelwind hineingestürmt war.

Aber alle waren still. Sie schauten Elibarika staunend an. „Wie kann sie es wissen?“, fragte der Fremde. „Sie hat einen guten Kopf“ erwiderte die Großmutter und zwinkerte Elibarika dabei ganz unauffällig zu.

„Elibarika, dieser Fremde hier ist ein Sterndeuter. Er dient einem großen König und hat genau das, was du eben sagtest in den Sternen gelesen. Da ist ein Zeichen am Himmel, dem wir folgen sollen. Sie haben die Kamele schon beladen und wollen wissen, ob wir mit ihnen ziehen. “

„Darf ich mit?? Bitte, bitte darf ich mit?“ –

„Der Ort aus dem der Geschichtenerzähler kam hieß Jerusalem. In unserer Sprache: Stadt des Friedens.“ –

 

„Darf ich miiit???“

 

2. Krippengeschichte

Wie Samuel vom Verlangen gepackt wird

Samuel war ein kleiner jüdischer Bub. Er war der jüngste in seiner Familie. Die älteren Geschwister waren schon verheiratet und hatten eigene Familien. Doch als seine Brüder jung gewesen waren, durften sie alle für eine Zeit mit Onkel Augustin zum Schafe hüten auf die Weiden. Das endlich auch zu dürfen war ein ganz großer Wunsch von Samuel, denn es war für ihn gar nicht so einfach ein kleiner jüdischer Bub zu sein. Das bedeutete nämlich, dass der in die Sederschule gehen musste. Jeden Tag viele Stunden. Es war nicht so, dass er ungern lernte. Aber dass man dabei die ganze Zeit sitzen musste konnte Samuel nicht verstehen. Gott, der die Menschen sinnvoll erschaffen hatte, hatte ihnen so viele Gelenke gegeben. Konnte es wirklich sein Wille sein, dass kleine Buben stundenlang sitzen?

Jedenfalls hatte Samuel nach jedem Schultag einen so starken Drang sich zu bewegen, zu turnen, zu rennen und zu klettern. Und er hatte Talent. Aber gerade dieses abenteuerliche Talent ängstigte seine Mutter sehr. War er doch schon zweimal schwer gestürzt. Daran dachte die Mutter vor allem, wenn Onkel Augustin wieder fragte, wann er den Knaben einmal mitnehmen könne. Und darum wurde dieser Zeitpunkt immer wieder verschoben.

Von seinem Vater lernte Samuel viel über seine Religion. Morgens beteten sie zusammen das „Höre Israel“. Und er schaute dem Vater ab, wie man vor der Mahlzeit die Hände wusch. Was am Sabbat erlaubt und verboten war. Einfach war das für Samuel nicht, nur die vorgeschriebene Zahl an Schritten zu gehen. Aber er war guten Willens, sich an die Gebote zu halten.

Dass Samuel den Wunsch mit dem Schafe hüten nicht vergaß, lag wohl auch an dem Abendgebet, dass seine Mutter täglich mit ihm sprach. Es war ein Psalm:

Mein Hirte ist der Herr,
nichts kann mir fehlen.
Er lässt mich rasten auf grüner Weide.
Er stillt mein Verlangen.

Nach dem Psalm hatte ihn seine Mutter gelehrt, sollte er noch persönlich mit Gott sprechen. Und weil es Samuel gar nicht so leicht viel jeden Tag etwas zu finden, sprach er meistens, dass er so gerne mit Onkel Augustin zum Schafe hüten wollte. Zur Sicherheit sagte er das nicht nur Gott, sondern auch seiner Mutter. Aber beides half wohl nicht.

„Ein Verlangen ist etwas viel größeres als ein Wunsch“, erklärte ihm seine Mutter, als er einmal seine Enttäuschung kund tat, dass Gott ihm die Erfüllung seines Wunsches nicht gewährte. War Gott etwa auch so vergesslich wie Samuel, dass er die kleinen Dinge schnell vergaß? Jedenfalls dachte Samuel darüber nach, aber er fand nichts in sich was größer war als ein Wunsch.
Heute hatten sie in der Sederschule gelernt, dass für Gott tausend Jahre sind, wie ein Tag. Samuel hätte gerne gewusst welcher Tag dann bei Gott gerade sei. Es war Sabbat gewesen, als er mit der Erschaffung der Welt fertig war. Aber wie viele Tage waren seither vergangen? Vor tausend Jahren hatte Gott jedenfalls mit dem Propheten Samuel gesprochen. Das war für ihn also gestern.

„Samuel, was ist los mit dir? Willst du heute nicht nach Hause?“, fragte der Lehrer überrascht. Tatsächlich waren die anderen Schüler schon aufgebrochen und er war so vertieft in seine Berechnungen gewesen, dass er es nicht einmal gemerkt hatte. Samuel sauste los. Aber er fand seine Kameraden nicht.

Allerdings hatte er so einen Schwung, dass er sich nach etwas umsah, worauf man klettern konnte. Und obwohl es sinnlos war, weil noch niemand an dem langen, glatten Stamm nach oben gekommen war, versuchte er, auf die hohe Palme vor dem Haus seiner Familie zu klettern. Er rechnete fest, nach einer bestimmten Zeit wieder herunter zu gleiten. Doch heute zog es ihn mit so einer Kraft nach oben, dass er es tatsächlich schaffte bis ganz oben.
So hoch war er noch nie gewesen. Wie klein sahen die Menschen da unten aus. Wie fern er ihnen war und wie nahe. Dort liefen ja seine Schulkameraden. Er pfiff. Sei drehten sich herum, aber niemand schaute hinauf. Seltsam. Ob es für Gott auch so war. Er schaute von seinem Thronsitz nieder und niemand schaute hinauf? Das er da war, ganz nah. Dass er mit den Menschen sein wollte. Und sie merkten es einfach nicht? Irgendwie wurde sein Herz von dieser Frage ergriffen. ER, der wie ein Hirte über sein Volk wachte – wann dachte er schon an ihn. Selbst die Segenssprüche murmelte er oft nur aus Gewohnheit. Und jetzt plötzlich sehnte er sich so die Stimme Gottes zu hören.

Da sah er unten seine Mutter vor die Tür gehen. Wohin sie wohl unterwegs war? Jetzt konnte er sie unbemerkt beobachten. Das dachte Samuel, als er sie aufschreien hörte: „Kind, bist du verrückt geworden. Komm sofort da herunter. Sei vorsichtig Samuel. Langsam!“ Schon war der Schreck und die Wut der Sorge gewichen.

Samuel wunderte sich. Herunter war doch gar nicht so schwer für einen Klettermeister wie ihn. Dann bekam er doch ein paar Schrammen am Knie – nichts Aufregendes, fand er. Und seine Mutter herzte und schimpfte ihn abwechselnd.
So gerne hätte Samuel ihr von dem besonderen Gefühl erzählt, was ihn oben auf dem Baum ergriffen hatte. Aber es war kein günstiger Moment.

Abends bekam Samuel auch noch einige Worte von seinem Vater zu hören, hatte er doch das Gebot nicht beachtet, Vater und Mutter zu ehren, indem er seiner Mutter einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Dann holte der Vater auch noch die Schnapsflasche. Das würde auf den Schrammen brennen, aber dafür würden sie dann gut heilen. Während der Vater die wunden Knie anschaute fragte er: „Und du warst wirklich ganz oben?“ Die Bewunderung, die in seiner Stimme mitklang tat Samuel wohl. Er biss die Zähne zusammen und ertrug die Wundreinigung wie ein Mann.

Auch bei seinem Vater wusste Samuel nicht die rechten Worte ihm zu sagen, wie er oben auf dem Baum plötzlich verstanden hatte, dass Gott gesucht werden wollte.

Für den Rest des Tages war Samuel nun so brav, wie er es eben konnte. Er wollte mit allen wieder gut sein, bevor die Nacht kam. Vielleicht vergaßen sie ja, dass er auf die Palme geklettert war bis Onkel Augustin an Channukka wiederkam?

Vor lauter Bravheit legte er sich sogar unaufgefordert auf die Strohmatte. Aber als seine Mutter das Nachtgebet sprechen wollte fragte er sie: „Mutter, warum hast du heute hinaufgeschaut auf den hohen Baum. So viele Leute sind vorbeigegangen und niemand hat mich bemerkt.“ Sie strich ihm durch das Haar. „Weil ich einen Samuelsinn habe.“ „Einen Samuelsinn?“, fragte er verwundert. „Ja, das ist ein Sinn, mit dem man spürt, wenn jemand den man lieb hat in Gefahr ist. Ich war eigentlich gerade beim Brotfladen backen, als ich plötzlich nach dir schauen musste.“

Manchmal war Samuel die Sorge seiner Mutter lästig gewesen, aber jetzt fühlte es sich ganz warm an. Aus Liebe hatte sie hinaufgeschaut.

„Dort oben habe ich darüber nachgedacht, wie es wohl für Gott ist. Wenn er unsichtbar da ist und niemand ihn bemerkt. Vielleicht gibt es ja auch so etwas, wie einen Gottessinn. Dann bemerkt man ihn, weil man ihn liebt.“

Noch einmal strich ihm die Mutter übers Haar. Stand schweigend auf und ging. Sie hatte den Psalm noch nicht gesprochen, aber Samuel rief sie nicht. Denn es geschah mit ihm etwas ganz Seltsames. Er hätte später niemandem sagen können wo es begann. Im Bauch? Oder in den Fingernägeln.

Jedenfalls wurde Samuel von etwas ergriffen, was stärker war als ein einfacher Wunsch. Er wurde von einem Verlangen ergriffen. „Du sollst zu mir sprechen Gott“, betete er. „Du hast gestern zum Propheten Samuel gesprochen. Ich bitte dich – sprich heute mit mir. Enttäusche mich nicht, denn ich vertraue auf dich.“ Das war ihm auf einmal viel wichtiger, als mit Onkel Augustin Schafe hüten zu dürfen. Wichtiger als am Wichtigsten. Ein Verlangen eben. Und Samuel schien es, als habe Gott dieses Verlangen in ihm geweckt, als er da oben saß auf der hohen Palme.

Doch das Leben ging ganz normal weiter. Es gab nur manchmal ganz kleine, nahezu unsichtbare Momente, in denen Samuel den Eindruck gewann, dass etwas von seinem Verlangen anfanghaft gestillt wurde. Manchmal sah er die Welt, als wäre sie eben gerade neu für seine Augen geschaffen worden. Und das war ein bisschen wie die Stimme Gottes hören. Und manchmal verstand er ein bisschen mehr, was sein Vater meinte, der mit dem Begriff „Gottessinn“ nichts anfangen konnte, aber erklärte, dass man SEINE Stimme in der Schrift hören könne.

Channukka kam. Und damit auch Onkel Augustin. Er kam an dem Abend, an dem die letzte Kerze angezündet wurde. Und er kam gleich zur Sache. Ob er nun endlich Samuel mitnehmen könne. Er brauche ihn wirklich, da sein Kollege erkrankt sei. Der müsse jetzt sein gebrochenes Bein ruhig halten, damit es gut zusammenwüchse.

Bei dieser Rede wurde Samuel unruhig. Warum musste Onkel Augustin seine Mutter an gefährliche Situationen erinnern. Jetzt würde sie bestimmt gleich wieder nein sagen.

Doch dieses Mal war seine Mutter bereit ihn gehen zu lassen. „Auf welchen Weiden seid ihr denn gerade?“ fragte sie Onkel Augustin. „In Bethlehem“, antwortete er.

„Nach Bethlehem, nach Bethlehem!“ jubelte Samuel, als er begriff, dass er dieses Mal den Onkel begleiten durfte. Dann sagte er zu Onkel Augustin: „Du musst wirklich gut auf mich aufpassen, den meine Mutter hat einen Samuelsinn. Sie merkt auch in der Ferne, wenn ich in Gefahr bin.“ Und bei sich dachte er: „Gott, du hast den Wunsch des kleinen Samuel erhört. Das ist mir ein Zeichen, dass du auch mein großes Verlangen stillen wirst. Enttäusche mich nicht, denn ich vertraue auf dich.“

Der wachsame Samuel

Samuel war der Jüngste in seiner Familie. Die älteren Brüder waren schon aus dem Haus und lernten ein Handwerk. Er wünschte sich, ein Hirte zu werden. Denn der Samuel, nach dem er seinen Namen hatte, war auch ein Hirtenbub gewesen, bevor er ein großer Prophet wurde. Er kannte und liebte diese Geschichte.
Jedes Jahr fragte Onkel Augustin, ob Samuel ihn dieses Jahr zum Schafe hüten begleiten könne. Und immer wieder wurde er von Samuels Mutter vertröstet, denn sie hatte Sorge um ihren Jüngsten. Das lag besonders daran, dass Samuel es nicht lassen konnte überall hinaufzuklettern und auf allem herumzuturnen. Ihm fielen immer neue waghalsige Kletterabenteuer ein. Doch als Samuel neun Jahre alt wurde, erlaubte sie es ihm endlich.

Freudig und neugierig zog Samuel mit seinem Onkel los. Doch schon der erste Arbeitstag begann ihn zu langweilen. Die Felsen und Klüfte lockten die Schafe nämlich überhaupt nicht. Friedlich grasten sie auf der Wiese und auch wenn Samuel ihnen mit gutem Beispiel voranging und zu den würzigen Kräutern emporkraxelte, kletterten sie ihm nicht nach. Weil sonst nichts passierte, begann Samuel um die ganze Herde zu rennen. Weder Onkel Augustin noch die Schafe zeigten sich beeindruckt, nur der Hund lief eine halbe Runde mit, bis ihm die Zunge aus dem Maul hing und er hechelnd zurückblieb.

Da begann Samuel auf einen Baum zu steigen, sich kopfüber in die Äste zu hängen und pfiff nach Onkel Augustin. Dieser erschrak bis ins Mark, hatte er doch der Mutter versprochen stets ein wachsames Auge auf seinen Neffen zu haben. Er eilte herbei, um ihm herunterzuhelfen. Samuel lachte nur und sprang mit einem halben Salto auf beide Füße.

Als die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, lagerten die Hirten am Feuer. Lang aßen sie schweigend ihr Abendessen bis der älteste Hirte sich an den Jüngsten wandte: „Weißt du, Samuel, ein guter Hirte muss alle seine Schafe kennen. Damit er merkt, wenn eines fehlt und wenn es einem schlecht geht.“

„Wie soll ich denn meine Schafe unterscheiden können, schon gar wenn es dunkel ist wie jetzt?“ „Viel wichtiger ist, dass ein Hirte Kraft und Mut besitzt. Sieh dir mein Wolfsfell an!“ Da wussten die anderen Hirten welche Geschichte sie nun hören würden. Wie der starke Augustin mit seinen eigenen Händen einen Wolf erlegt und ihm das Schaf zwischen den Zähnen herausgezogen hatte. Zum Beweis seiner Tapferkeit hielt Augustin dann ein Wolfsfell in die Höhe. „Auf dem großen Markt in Jerusalem gibt es auch Wolfsfelle zu kaufen“, neckte ein anderer Hirte.

„Vielleicht macht auch der gute Hund den guten Hirten aus“ – Schäfer Abel hatte eine gute Hand für die Hundedressur. Nur damit, dass er seinen Hund „Wolf“ rief, hatte er schon für einige Verwirrung gesorgt. „Auf die Schnelligkeit kommt es an“, meinte der Hirte Ben. „Gerade heute ist eins von den Jungen auf einen steilen Abhang zu gerast und ich habe es noch erwischt.“ „Würdest ja auch vor einem Wolf davonrennen“, brummte Augustin.

„Ich finde die Wachsamkeit am wichtigsten, sonst verpasst man ja den entscheidenden Augenblick“, erklang nun Samuels helle Stimme.
Dabei dachte er an die Geschichte vom Propheten Samuel, der als kleiner Junge dreimal von der Stimme Gottes geweckt wurde. „Sogar beim Schlafen muss man noch wachsam sein, weil…“ Mitten im Satz sank Samuel auf die Seite, kuschelte seinen Kopf in Onkel Augustins Wolfsfell und schlief.

„Den weckt heute Nacht nichts mehr auf“, meinte Abel. „Nein, wirklich nicht. So wie er den ganze Tag auf den Wiesen und Bäumen herumgeturnt ist.“
„Vielleicht hast du dem Kleinen ja Angst gemacht mit deiner Wolfsgeschichte und er hat an dem Baum die Flucht geübt?“ Halb aus dem Schlaf heraus wollte Samuel sich noch wehren. Er war doch kein Feigling und außer Gott fürchtete er niemanden. Wenn ihn einmal dessen Stimme wecken würde, er würde aufspringen und rufen „Hier bin ich! Rede Herr, dein Diener hört.“ Dazu hieß er ja schließlich Samuel.

Als das Feuer heruntergebrannt war, schliefen alle. Die Hirten hatten zwar die Nachtschichten untereinander verteilt, aber oft nahmen sie es nicht so genau damit, trauten ihren Hunden und dem bis in den Schlaf hinein gut geschulten Gehör. Der Himmel war klar, kein Gewitter stand in der Luft und von herumtreibenden Diebesbanden hatte man in dieser Gegend länger nichts gehört. Sie fühlten sich sicher.
Nein, die Hirten erwarteten nichts Besonderes in dieser Nacht.

Es war Samuel, der als erster völlig klar im Kopf und mit beiden Füßen auf dem Boden stand. Ihn hatte ein großes Licht geweckt und Samuel sprach, wie er es sich im innersten seines Herzens vorgenommen hatte: „Hier bin ich!“

Dabei fuhr ihm der Schreck in die Glieder und er rüttelte Onkel Augustin wach. Sofort griff Onkel Augustin seinen Hirtenstab und wollte aufspringen. Vom Licht geblendet blickten sie in die Höhe und sie hörten die Stimme des Engels:

„Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volke zuteilwerden wird. Denn heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, der Messias, der Herr. Dies soll euch das Zeichen sein: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.“

Sogleich rannte Samuel los. Aber seltsam, obwohl Samuel die Gegend kaum kannte, trugen ihn seine Füße wie im Sturm hinunter nach Bethlehem. Fast flog er wie gezogen dahin, denn etwas in seinem Herzen sagte ihm, dass es Gott war, der rief. Gott – geboren als Kind. Ganz wirklich und ganz nah.

Der schlafende Hirte Thomas

Eine Krippengeschichte zusammengefügt aus Aufsätzen von Zweitklässlern.

Auf einem Berg weideten die Schafe. Das beliebteste Schaf war Adele und der Schäferhund. Adele war sehr beweglich. Es konnte Purzelbaum und vieles mehr. Natürlich gab es auch andere Schafe.

Einer der Hirten hieß Thomas. Er hatte rote Backen und braune Haare. Und einen grünen Pullover und eine braune Hose.

Die Nacht brach herein und alle Hirten saßen am Feuer und die Flamme wurde immer kleiner. Sie erzählten sich Geschichten.

Onkel Augustin erzählte vom Wolf und vom Schaf und wie er das Schaf aus dem Wolf gezogen hatte. Dann kam Samuel an die Reihe und erzählte von der Wachsamkeit. Sie haben eine Brotzeit mit Apfel gegessen. „Thomas, kannst du mir noch ein Lied auf deiner Hirtenflöte vorspielen?“ fragte Samuel mitten hinein. „Na gut, ich spiele dir noch eines.“ Dann sind sie alle eingeschlafen. Alle schliefen tief und fest. Auch die Schafe schliefen.

Plötzlich kam ein Engel. Samuel schnellte sofort hoch uns sah den Engel. Der sprach: „Fürchtet euch nicht! Ich verkünde euch eine große Freude. In dieser Nacht ist der Retter geboren, das Jesuskind.“ Er weckte alle anderen außer Thomas. Da sprangen alle Hirten hoch.

Thomas hatte einen guten Traum. Die Hirten wollten Thomas aufwecken. Aber er schlief und schlief weiter. „Dann müssen wir ohne ihn gehen,“ sagten sie zueinander. Sie holten die Schafe und gingen los.
Dann hörte Thomas das Schnarchen von Onkel Augustin nicht mehr und er wachte auf. Er wunderte sich, wo die anderen waren. Er suchte sie überall. Aber er fand sie nicht Da begann er zu weinen.

Da kam der Engel ein zweites Mal und sprach: „Fürchte dich nicht. Deine Freunde sind an der Krippe: Du musst dem Stern folgen bis du da hinkommst.“ Thomas begann den Stern zu suchen.

Da gelangte er an ein ganz großes Feld. Da ist eine große Kuh. Da musste er vorbei. Er stieg auf einen hohen Berg.

Da sah er den Stern und eine Karawane.

Wir sind drei Sterndeuter. Wir heißen Caspar, Melchior und Balthasar. Und wie heißt du?“ „Ich heiße Thomas.“ „Und wieso bist du so traurig?“ „Meine Freunde sind weg.“ „Dann such sie.“ „Das habe ich doch.“
„Gehen wir doch zusammen. Wir sind schon bei einer schönen Stadt vorbeigekommen. Da dachten wir, hier werden wir das Christuskind finden. Aber der Stern führte uns weiter.“

Da kamen ihnen die Hirten entgegen. „Wo wart ihr denn?“, fragte Thomas.„Wir waren beim Christuskind.“ „Das glaube ich euch nicht.“ „Dann gehen wir zusammen noch einmal hin.

Und dann blieb der Stern stehen über einer Hütte. Sie gingen hinein.

Das Jesuskind saß auf Heu und auf Stroh. Thomas hatte das Wunder miterlebt.

Der erste Krippenschnitzer

Tim Radek, der erste Krippenschnitzer

Tim Radek war ein nachdenklicher Junge. Er schaute sich die Welt an und wunderte sich, dass sie so war, wie sie war. Warum hatte er kräftige Arme und Beine und seine Schwester konnte nur auf der Strohmatte sitzen? Warum gab es bei ihnen zu Hause immer genug zu essen, oder jedenfalls meistens, während wenige Straßen weiter hungrige Kinder um Brot bettelten? Und warum musste sein Vater soviel Steuern an die Römer bezahlen anstatt Brot für die hungrigen Kinder zu kaufen?

So viele Fragen. Und jede Antwort brachte so viele neue Fragen. Oft wurde Tim Radek ganz traurig, weil er so vieles nicht verstehen konnte. Da war es seltsamerweise seine kleine Schwester Mirjam, die niemals wie die anderen Kinder durch die Straße laufen konnte, die ihn dann tröstete. „Du hast so kräftige Arme, damit du mich herumtragen kannst. Und dem lieben Gott helfen, die Welt zu reparieren.“ Niemand sonst sprach vom „lieben“ Gott. Außer seine kleine Schwester, die in seinen Augen Grund hätte mit Gott zu hadern. Aber er hatte keine Idee, wie er beim Reparieren der Welt behilflich sein könne. Tagelang dachte er darüber nach. Dann ging er zu seinem Vater und sagte: „Vater, ich will Arzt werden.“

„Ach, Bub“, seufzte der Vater, „als Sohn eines einfachen Handwerkers kannst du nur Handwerker werden. Oder dich als Hirte verdingen. Denn dein älterer Bruder wird wohl einmal die Werkstatt übernehmen.“

„Nur reiche und mächtige Menschen könnten Gott helfen die Welt zu reparieren. Und die sind damit beschäftigt noch reicher und mächtiger zu werden“, klagte Tim Radek seiner Schwester. „Und wenn ich als Hirte auf den Weiden bin, kann ich dich nicht einmal umhertragen.“ Auch Miriam war ein bisschen traurig, aber das sollte Tim Radek nicht merken. Sie dachte eine Weile nach. Plötzlich brach sie ihr Schweigen: „Du könntest dich bei Isias bewerben. Der findet nämlich niemanden, der ihm zur Hand gehen will. Und wenn Vater dir die Schnitzmesser mitgeben würde, dann könntest du neue Tiere und Figuren schnitzen.“

„Warum gerade bei dem? Es heißt, er tobt und schimpft. Er sei ungerecht.“ Mirjam wunderte sich. Konnten die Menschen mit den gesunden Beinen wirklich so wenig erkennen? „Bitte Bruder, versuche es. Versuche, ihm ein getreuer Knecht zu sein. Er ist nicht böse. Es sind nur die Schmerzen in seinem rechten Bein, besonders wenn das Wetter wechselt.“
„Du meinst, wenn ich ihn unterstütze, dann helfe ich ein ganz klein bisschen dem lieben Gott?“ Mirjam nickte verlegen. „Und deine Schnitzereien – mag Vater sie auch unnütz finden. Sie sind schön.“

Auch Isias fand die Schnitzereien schön. Überhaupt war er zufrieden mit seinem neuen Knecht. „Seit dieser Tim bei Isias arbeitet, schreit er viel weniger herum. Er erlaubt dem Burschen sogar stundenlang zu schnitzen“, wunderte sich Augustin. Isias schmunzelte in sich hinein, wenn er seine Kollegen so reden hörte.

Dieser Tim Radek nämlich übernahm die ganze Arbeit, wenn ein Wetterwechsel sich anbahnte. Er schien einfach zu spüren, wenn der Meister Schmerzen hatte. Er brachte dann eines von den ruhigen Schafen, so dass er die schmerzende Stelle in seinem Fell wärmen konnte. Und dazu sagte Tim Radek so merkwürdige Sätze wie: „Auch ein Lamm will helfen, die Welt zu reparieren.“ Das verstand Isias zwar nicht. Aber er verstand, dass dieser junge Mann ihm gut war und mit ihm fühlte.

Ganz besonders hatte sich das in jener Nacht gezeigt, als die Engel den Retter der Welt verkündet hatten. Alle waren sie eilends aufgebrochen. Nur Tim Radek hatte sich nach ihm umgesehen und gemerkt, wie heftig seine Schmerzen ihn bei jedem Schritt peinigten. Er hatte kurz gezögert, und ihn dann, wie einst seine kleine Schwester, auf den Rücken genommen. Zuerst wollte Isias das nicht, denn er war ein stolzer Mann. Aber die Aussicht den Heiland der Welt mit eigenen Augen sehen zu dürfen, machte seinen Stolz ganz unwichtig.

Und als er dann ankam und das Kind sah, vergaß er sogar den Schmerz. Weit öffnete er Augen und Herz, um dieses Bild für immer zu bewahren.

Und später, als sie sich auf der Weide an jene heilige Nacht erinnerten, bat Isias Tim Radek, ihm eine Krippe zu schnitzen. Und wenn er sie ansah, wurde er froh und seine Augen leuchteten.
Seine zweite Krippe schnitzte Tim für seine Schwester Mirjam. Ihr wollte er alles ganz genau erzählen, was der Engel verkündet und was er und die Hirten erlebt hatten. Für Tim Radek war klar, dass der Heiland der Welt in die Stadt gehen würde, denn dort war das Unheil der Menschen so greifbar. Und seine Schwester würde ihn dort erwarten. Sie würde ihn um gesunde Füße bitten. Oder würde sie ihn um Frieden auf Erden bitten?
Tim Radek glaubte dem Engel. Obwohl er nur ein Kind gesehen hatte. Ganz hilflos und klein. Eigentlich noch ohnmächtiger als er selber.
Wie gut, dass der Heiland der Welt hier geboren ist, bei uns Armen und den Tieren. Vielleicht würde er auch da anfangen, die Welt heil zu machen?

Der heilige Josef

Maria war mit Josef verlobt. Sie waren einander versprochen, aber Maria würde noch ein Jahr bei ihren Verwandten wohnen, bevor sie Josefs Frau würde.

Eine Legende erzählt, dass Maria im Tempel in Jerusalem aufgewachsen sei. Mehrere Männer hätten sie gerne zur Frau gehabt. Und als diese vor ihr standen, hätte der Stab des Josef zu blühen begonnen. Zum Zeichen, dass er der Mann ist, den sie heiraten solle.

Die Bibel erzählt, dass Josef ein Mann aus dem Haus David ist. Er wird sogar als Sohn Davids angeredet. Dabei ist die Zeit des König Davids schon 1000 Jahre vergangen.

David hatte als Knabe in Bethlehem Schafe gehütet. Von dort stammte  seine Familie. Der erste König von Israel, den das Volk erhoben hatte tat nicht mehr was Gott gefiel. Darum sollte der Prophet Samuel einen neuen König salben. Einen König, den Gott ausgewählt hat. Dazu war er nach Bethlehem gekommen. Isai stellte ihm seine Söhne vor, einen nach dem anderen.

Und schon beim ersten dachte der Prophet Samuel: „Dieser ist es.“ Aber er konnte das nicht von Gott hören. Er hörte von Gott: „Sieh nicht auf sein Aussehen und auf seine stattliche Gestalt; Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“
Sieben seiner Söhne hatte Isai vorgestellt. Und immer hatte der Prophet Samuel den Kopf geschüttelt. Er fragte: „Sind das alle deine Söhne?“ Und Isai antwortete: „Der Jüngste fehlt noch. Er hütet gerade sie Schafe.“ Sie holten ihn und der Prophet salbte David inmitten seiner Brüder zum König von Israel.

In Zeit des Königs David war Israel ein eigenständiges starkes Königreich. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Tausend Jahre Geschichte. Zuerst war das Königreich geteilt im Streit, wer denn der nächste rechte König sei. Dann ging ein großer Teil an ein mächtiges Nachbarland verloren. Und auch der kleine Rest konnte sich nicht mehr halten. Das Volk Israel wurde ins Exil geführt. Doch immer wieder gab es Propheten, die zu verstehen suchten, was Gott dem Volk durch seine Geschichte sagen wollte.

Tausend Jahre Erfahrung.
Zur Zeit des Josefs haben die Römer das Land erobert. Augustus, der Kaiser von Rom regierte sein großes Reich. Und dazu gehörte auch Israel. Dieses kleine Land machte dem Kaiser oft Ärger. Er erlaubte den Völkern, die er erobert hatte ihre Götter zu behalten. Nur mussten sie ihn als obersten Gott anerkennen. Und das konnten die Juden nicht tun, denn ihr Volk war einen langen Weg gegangen und hatte den einzigen, unsichtbaren Gott dabei immer mehr kennen gelernt. Sie konnten den Kaiser nicht anbeten.

Außerdem hatten die Juden eine Hoffnung. Gott hatte nämlich dem König David geschworen: „Einen Sproß aus deinem Geschlecht setze ich auf deinen Thron.“ Und auch wenn man davon nichts sehen konnte, so wussten die Juden doch, dass Gott treu ist. Das jüdische Volk wartete auf einen Retter. Auf einen, der die Römer aus dem Land jagen würde. Auf einen, an dem sich die Macht Gottes zeigen würde.

Aus dem Haus des Königs David stammte Josef. Er war Bauhandwerker in Nazareth. Auch bei ihm hatte Gott nicht auf das geschaut, was die Augen sehen. Wir wissen nicht, wie er aussah. Ob er alt oder jung war. Aber wir wissen etwas von seinem Herzen. Josef war gerecht. Das heißt, dass er ein Herz hatte, das auf Gott hörte. Er versuchte die Gebote zu halten, die Gott seinem Volk gegeben hat. Und in jeder Situation überlegte er, was nun vor Gott gerecht ist. Denn genau das wollte er tun.

Seine Braut Maria war verreist. Drei Tagereisen weit ins Gebirge zu ihrer Verwandten Elisabet. Von dort hörte man seltsame und wunderbare Dinge. Zaccharias, der Mann der Elisabet war ein Tempelpriester. Und als er allein in Jerusalem im Allerheiligsten betete wurde er plötzlich stumm. Manche meinten, er habe eine Erscheinung gehabt.

Und Maria hatte zu Josef gesagt: „Meine Base Elisabet ist in ihrem hohen Alter schwanger geworden. Ich will gehen und ihr helfen.“ Dabei hatten die Beiden bisher keine Kinder bekommen können. Und nun waren sie eigentlich schon zu alt. Josef, der die Schrift gut kannte, wusste, dass das oft ein Zeichen ist. Ein Zeichen, dass da jemand geboren wird, mit dem Gott etwas Besonderes vorhat.

Es würden wohl drei Monde vergehen, bis seine Verlobte wiederkam. Und Josef nutzte die Zeit. Ganz in der Nähe von Nazareth wurde eine neue Stadt gebaut. Und dort konnte er Arbeit finden. Das war gut so, auch wenn es eine römische Stadt war. Es wurde dort auch ein riesiges Theater gebaut. Obwohl er gut beschäftigt war zählte er die Tage. Bald würde Maria wiederkommen.

Jeden Abend hielt er schon Ausschau nach seiner Verlobten. Denn der Sohn ihrer Base war inzwischen geboren. Bei seiner Beschneidung hatte er den Namen Johannes bekommen. Ein Name, der in dieser Familie gar nicht üblich war. Und genau bei der Namensgebung war dem Zaccharias die Stimme wieder gekommen. Jedenfalls hatte ein Reisender so erzählt. Was aus diesem Kind wohl werden würde? Maria würde es genauer wissen. Doch es schien Josef, als habe Gott bei diesem Jungen in besonderer Weise die Hand im Spiel.

Eines Abends, als er nach der Arbeit wieder nach Nazareth kam sah er Maria. Sie stand am Brunnen und schöpfte Wasser für die Tiere einer kleinen Karawane. Wie froh war Josef, dass sie bei diesen Mitreisenden Schutz gefunden hatte. Auch sie hatte ihn gesehen.

Maria stellte das Schöpfgefäß ab und ging auf Josef zu. Sie sah ihn an. Und ihre Augen fragten etwas, was Josef nicht deuten konnte.

„Ich erwarte ein Kind, einen Sohn.“ Das waren ihre Worte. Und Josef war so fassungslos, dass er nichts erwiderte. Auch sie sprach nichts weiter, nahm ihr Bündel und ging zu ihrer Wohnstatt bei den Verwandten.

Ratlos ging Josef nach Hause. Wie konnte das sein? War ihr auf der Hinreise etwas zugestoßen? Warum hatte sie von einem Sohn gesprochen? Sie konnte doch nicht wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Oder war etwa von einem Kind der Verheißung die Rede? In einem Priesterhaushalt, bei Zaccharias konnte sich Josef so etwas vorstellen. Aber hier. Bei ihm?

Er dachte hin und her, was er nun tun sollte. Er konnte nichts begreifen Und er wolle tun, was vor Gott recht ist. Das Gesetz sah für einen solchen Fall die Anklage gegen die Frau vor. Und eine harte Strafe. Aber Gott, der das Gesetz gegeben hatte war ein barmherziger Gott. Konnte er diese Härte wirklich wollen?

Von dieser Nacht erzählt uns die Bibel in ganz wenigen Worten:

Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes. Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte:

Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen, denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.

Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllt, was der Herr durch den Propheten gesagt hat:

Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns.

Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und er nahm seine Frau zu sich. Er erkannte aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Namen Jesus.“

Josef hört und tut. Das sollte noch oft geschehen. Kein Wort von dem, was Josef sagte ist in der Bibel aufgeschrieben.

Wahrscheinlich ist er aber doch aufgestanden und durch das kleine Nazareth zur Wohnung seiner Braut gelaufen. Vielleicht hat er sie leise gerufen: „Maria, Maria.“ Und sie wird wohl nicht geschlafen haben vor Sorge.

Maria, Maria im Traum heute Nacht
hat mir ein Engel Botschaft gebracht.

Heißt dass, du verstehst?

Verstehen? Nein, verstehen kann ich nicht;
nur glauben, dass der Engel die Wahrheit spricht.
Glauben und tun was der Engel mir sagt,
vertrauend darauf dass Gott alles vermag.

Hast du denn den Engel gar nichts gefragt?

Nein, kaum hatte ich seine Stimme vernommen
bin ich sofort zu dir gekommen:
Ich soll dem Kind den Namen Jesus geben
und mit dir und ihm zusammen leben.

Jesus- Gott heilt – dass soll sein Name sein.

Wie konntest du dieses Wissen tragen allein?

Elisabet ist mir entgegengeeilt.
Mit ihr habe ich dies Wissen geteilt.
Ihr Sohn ist in ihrem Bauch gesprungen
und ich habe Gott ein Loblied gesungen.
Sie hat mich als Mutter ihres Herrn gegrüßt.
Das sind Worte, die man niemals vergisst.

So mag sich durch Jesus die Schrift erfüllen
Es soll uns geschehen nach Gottes Willen.

Später, als Maria schon im Haus des Josef wohnte, dachten sie über diese beiden Kinder nach. Über Johannes und Jesus. Was würde wohl ihr Auftrag sein? Was hatte Gott mit ihnen vor?

„Er wird sein Volk von den Sünden erlösen“ – so hatte es der Engel dem Josef gesagt. Das war ein Heil, das nicht aus der Macht des Menschen kommen konnte. Ein Heil, dass man nur empfangen kann. Er würde heilen, wo die Not der Menschen ihre Wurzel hatte.

Josef wusste, dass im Volk ein Retter erwartet wurde, der die Römer vertreiben sollte. Ein starker Mann in dem sich Gottes Macht zeigte. Er konnte diese Sehnsucht verstehen. Aber wie oft in der Geschichte handelte Gott so ganz anders.
Maria sprach oft mit dem ungeborenen Kind. Besonders, weil viele Texte, die sie aus der Schrift kannte einen ganz neuen Sinn bekamen durch das was gerade mit ihr geschah. Und sie staunte, dass das bei Gott möglich war. Sollte der Kleine nicht in Bethlehem zur Welt kommen, gemäß der Schrift?

Da kam Josef von der Arbeit nach Hause. Er machte ein betrübtes Gesicht: „Die Römer“, begann er, „Der Kaiser Augustus hat befohlen, dass jeder Mann sich in seine Heimatstadt begeben muss, um sich in Steuerlisten einzutragen. Gerade jetzt, wo jeden Tag das Kind zur Welt kommen kann. Da will ich dich doch nicht alleine lassen. Aber ich werde wohl nach Bethlehem gehen müssen. Denn ich bin ein Sohn Davids.“

Maria nahm die Nachricht gar nicht schwer: „Was schaust du so fröhlich?“ „Ich werde dich begleiten.“ „In deinem Zustand willst du eine Reise machen? Am Ende wird das Kind am Wegrand geboren.“ „Eben habe ich darüber nachgesonnen, dass das Kind wohl in Bethlehem zur Welt kommen soll. Heißt es nicht in der Schrift: Du Bethlehem bist nicht die kleinste unter den Städten Judas? Bei Gott ist eben nichts unmöglich. Selbst der römische Kaiser hilft, dass sich die Schrift erfüllt.“

„Wenn du es so siehst werde ich dich mitnehmen.“

Hast du uns denn schon ein Reittier gekauft? Da draußen steht ein Esel. Direkt vor unserer Tür.“

Da wurde Josef ein verlegen. „Das ist eine eigene Geschichte. Der Esel lahmt. Zum Reiten können wir ihn wohl nicht gebrauchen. Er lahmt und hat ein dickes Bein. Und der römische Handwerker auf der Baustelle hat ihm viel zu viel aufgeladen. Und als er den Esel schlug habe ich ihm die Peitsche weggenommen. Darüber war er so wütend. Ich konnte ihn nur beruhigen, indem ich ihm das kranke Tier abgekauft habe.“

Längst hatte Maria sich gebückt und sich das kranke Bein angesehen. Sie brachte den Esel ins Haus und machte ihm einen Umschlag mit Salbe. Ganz leise flüsterte sie ihm in die großen Ohren: „Eselchen, Eselchen, werde schnell gesund, der Herr braucht dich.“ Und das Eselchen nickte und schaute sei aus klugen Augen an. Zweimal täglich kümmerte sich Maria um den kleinen Esel.

Maria war sich sicher, dass sie auf diesem Eselchen in die Stadt Davids, nach Bethlehem reisen würde. Damit sich die Schrift erfüllt: „Einen Sproß aus deinem Geschlecht setze ich auf deinen Thorn.“ Denn Gott ist treu.  Alles was er sagt, das vollbringt er.

Das Schaf Adele

Dabei sein ist alles

 Wenn die kleinen Lämmlein auf die Welt kommen und sich üben auf den noch wackeligen eigenen Beinen zu stehen, sieht das sehr lustig aus. Und die Hirten haben Freude daran, die Kleinen zu beobachten. Das kleine Schaf Adele mochte es, beobachtet zu werden. Deshalb hatte es bald viele lustige Ideen, wie es in der großen Herde auffallen könnte. So lernte sie es, abwechselnd nur auf den Hinterbeinen und dann doch wieder nur auf den Vorderbeinen zu laufen. „Seht mal, was Adele macht“, sagten die Hirten dann zueinander. Und dabei fühlte sich Adele wohl. Auch als sie sich angewöhnte, sich durch seitliches Rollen fort zu bewegen, erregte sie damit Aufsehen. Und auch etwas Ärger.

Doch sie wuchs schnell heran, und bald war die nächste Generation kleiner, drolliger Lämmlein geboren. Adele hörte niemand mehr ihren Namen nennen. Auch wenn sie oft in der Nähe der Hirten herumstrich, schien sie niemand mehr zu kennen.

Eines Abends hörte sie den Hirten am Lagerfeuer zu. Sie erzählten von dem Aufwand, den sie wegen eines verlorenen Schafes betrieben hatten. Zu zweit waren sie losgezogen. Überall hatten sie gesucht. Auch die Dunkelheit hatte sie von ihrer Suche nicht abhalten können. Und so froh waren die Hirten, das verloren geglaubte Schaf wieder gefunden zu haben, das sich in einem Dornengestrüpp verfangen hatte. Ganz kläglich hatte es gejammert. Und die Hirten streichelten das wieder gefundene Schaf, das bei ihnen am Feuer lag.

Das war der Augenblick, in dem Adele beschloss, sich selbst zu verlieren. Sie wünschte sich, dass man sie auch sucht und findet und dann ganz, ganz lieb hat.

Doch der Weg von einem Wunsch und einem schönen Einfall bis zum Geschehen war alles andere als einfach. Adele hatte zwar einen Kopf voller Einfälle, aber sehr mutig war sie nicht. Allein schon die Vorstellung, sich nachts allein aus dem Schafstall zu entfernen. An Wolf, dem Hirtenhund, vorbei. Im Dunkeln. Und wo sollte sie sich verstecken? Denn ganz allein unter dem weiten Sternenhimmel zu liegen, war ihr wirklich zu aufregend.

In den nächsten Tagen hielt Adele die Augen offen. Und bald hatte sie eine Lösung gefunden. Nicht ganz weit weg vom nächsten Dorf gab es einen Höhlenstall. Dort wurde Heu gelagert. Und manchmal nächtigte dort auch ein Ochse, wenn er zum Pflügen der umliegenden Felder gebraucht wurde.

So blieb Adele am nächsten Abend auf der Wiese in einer Mulde ganz flach liegen, bis alle anderen Schafe in den Stall getrieben waren.

Im Dämmerlicht wollte sie sich dann leise davonstehlen. In ihrer Phantasie trat sie dabei auf Schlangen und Skorpione. Und sie hörte deutlich den scharfen Atem eines echten Wolfes. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Und so raste sie mit heftigem Herzklopfen in jenen Höhlenstall und vergrub sich ins Heu.

Als sie sich etwas gefasst hatte, fing sie an, den Wolfsatem ihrer Einbildungskraft zuzuschreiben. Und als sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, fing sie an zu träumen, sie werde gefunden. Den Schafen würde ihre Abwesenheit bestimmt schon aufgefallen sein. Vielleicht würden die Hirten ihr Fehlen auch schon am Abend bemerken. Wer sie wohl suchen würde? Vielleicht Augustin? Der fürchtet den Wolf nicht. Jedenfalls hatte er von seinem Mut oft gesprochen. Sie wollte jedenfalls eine ruhige Nacht im Schutz der Höhle verbringen.

Doch die Nacht blieb nicht ruhig. Fremde Menschenstimmen waren zu hören. Eine Frauenstimme. Ein Esel. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Adele grub sich immer tiefer ins Heu, um nur ja nicht bemerkt zu werden. Einige Zeit war es ruhig. – Doch da. Wimmerte da nicht ein kleines Lämmchen? Oder klang so die Stimme eines ganz kleinen Menschenkindes?

Ängstlich und neugierig zugleich steckte Adele ihren Kopf aus dem Heuhaufen. Und was sie da jetzt sah, ließ sie das Gewimmer sofort vergessen.

Alle Hirten waren unterwegs zu dem Stall. Mit ihnen der Hirtenhund. Und alle Schafe. So sehr hatte sie den anderen gefehlt, dass alle gemeinsam auf die Suche gegangen waren. Und ging vorneweg nicht ihre Mutter, die wohl spürte, wo Adele zu finden sei?

Gerade wollte Adele ihr entgegenhüpfen, hinein in das wohlige Gefühl des Gefundenwerdens.
Da geschah etwas Sonderbares. Ihr schien, als wäre gar nicht sie, die verloren gegangene Adele, der Mittelpunkt des Interesses. Alle wandten sich den Menschen zu. Sie hatte richtig gehört und gesehen. Da waren ein Mann und eine Frau. Und dazu ein so winziges Menschenkind, wie man es draußen auf den Feldern sonst nie zu Gesicht bekam. Waren etwa alle Hirten und Schafe gar nicht wegen ihr gekommen? Es war das Kind, dieses winzige Menschlein, das sie ansahen, als wäre es ein Wunder. Etwas ganz Besonderes.

So viel enttäuschte Erwartung konnte Adele kaum aushalten. Doch noch ehe sich der Schmerz der Enttäuschung ganz in ihr ausbreiten konnte, wusste sie plötzlich, was sie tun würde. Sie sprang auf ihre Mutter zu und rief laut: „Mama, ich war dabei, als dieses Kind geboren wurde!“

Auch wenn Adele nie ganz verstand, welche Bedeutung diese Nacht und dieses Kind für die Hirten hatte. Mit diesen Worten begann sie fortan an jedem Abend bei ihr zuhause im Stall eine neue Geschichte zu erzählen, was sich alles in jeder Nacht zugetragen hatte.

Und manchmal verlor sie über dem Geschichtenerzählen sogar sich selbst. Und sie konnte sich an den Geschichten so freuen, als hätte sie sie gar nicht selbst erfunden, sondern jemand hätte sie ihr ins Ohr geflüstert.

Und einmal, als der Mond besonders schön in den Stall leuchtete, erzählte sie sogar, warum sie wirklich in jener Nacht damals aufgebrochen war. Und sie konnte mit allen anderen darüber lachen.

 

Das Mädchen vom Jakobsbrunnen

Seit Jael alt genug war Wasser zu schöpfen ging sie Tag für Tag hinaus zum Jakobsbrunnen, den ihr Erzvater Jakob selber gegraben hatte. Bei der Gelegenheit konnte sie den vielen Fremden zuhören, die meist auf dem Weg nach oder von Jerusalem dort Station machten. Die Leute aus ihrer Stadt beteten in der Nähe auf dem Berg Garizim zu Gott. Und sie waren uneins mit denen, die auf dem Weg nach Jerusalem waren.

Eine Weile lang hatte Jael überlegt, ob es in Jerusalem etwas zu finden gäbe, was ihr Sehnen stillen würde. Aber die Rückkehrenden zankten sich ebenso um das kostbare Wasser, wie die Hinreisenden. Da dachte sie: „Wenn man etwas findet, was das eigene Sehnen stillt, würde man auch mit anderen im Frieden sein können.“ Und so blieb sie bei der Hoffnung, dass das Ersehnte sie eines Tages erreichen würde. Am Brunnen, denn dort kamen alle Fremden an, die etwas Neues bringen konnten.

Was sie ersehnte, wusste sie nicht. Aber sie wusste, dass ihr etwas fehlte. Etwas, das groß genug war sie ganz zu erfüllen. Nicht nur einen Moment lang, wie es auch Vogelsang und Flötenklang ab und an vermochten. Anders, tiefer, dauerhafter müsste es sein.

Die Heftigkeit dieses Verlangens konnte sie immer wieder aus der Heiterkeit in tiefste Verzweiflung stürzen.

Sie sah auch ohne die Belehrung der Anderen ein, dass ihr nach menschlichem Ermessen nichts fehlte. „Es gibt halt nicht nur Höhepunkte im Leben – das Leben ist kein dauerndes Fest“, mahnte die Mutter. Doch das war es auch nicht, was Jael wirklich in ihrem Leben ersehnte. Im Gegenteil – gerade in Festzeiten fühlte sie den Mangel noch tiefer und deutlicher. Sollte ihr Leben so verlaufen, wie das ihrer Mutter und das der Mutter ihrer Mutter?

Mehr aus Langeweile fing sie an, den Männern und Knaben schöne Augen zu machen. Mit Erfolg, wie sich schnell herausstellte. Und doch auch wieder nicht. Zwar war das Mädchen anziehend, doch wer ihr sehr nahe kam, merkte schnell, dass er ihrem intensiven Sehnen nicht standhalten konnte.

Jael verstand nicht, warum diese Eigentümlichkeit die Knaben so schnell wieder von ihr wegtrieb.

Die intime Nähe eines anderen Menschen erfüllte sie nur einen Augenblick. Sie wurde gewahr, dass darin noch kein gegenseitiges Erkennen in letzter Tiefe lag.
„Ich sehne mich so“, schrie ihr Herz gerade dann, wenn andere Zufriedenheit und Dankbarkeit von ihr erwarteten.
Als sie eines Morgens wieder zum Jakobsbrunnen hinausging, hatte dort eine seltsame Karawane eine Rast eingelegt. „Elefant“, nannten sie das riesige Reittier, das alle bestaunten. Das trank – man kann es kaum glauben – durch seine überlange Nase. Die Leute aus der Stadt fanden das aufregend.

Jael aber fand etwas ganz anderes aufregend. Etwas, das sie gar nicht gleich benennen konnte. Es hatte mit dem Grund der Reise der Karawane zu tun. Zwar ging deren Weg auch in Richtung Jerusalem. Aber offenbar handelte es sich dabei nicht um eine Pilgerreise im üblichen Sinn. Diese Leute waren keine Juden, die dort opfern und beten wollten.

Es waren Leute, die sich für die ganz großen Geheimnisse der Welt interessierten und die sich die Richtung des Weges von einem Stern weisen ließen. Auf ihren Gesichtern lag eine Erwartung und Sehnsucht, als ob sie einem unendlichen Glück entgegen gingen.

Sollte es in dem täglichen Einerlei etwas nie Dagewesenes geben? Sie strahlten ein Vertrauen aus, als wäre dieses Glück schon zum Greifen nah. Der lange beschwerliche Weg dorthin schien sie nicht zu schrecken. Ihre große Sehnsucht trieb sie zur Eile an.

Als Jael sah, dass sich die Karawane zum Aufbruch rüstete, drängte es sie, sich unter das Gefolge zu mischen. „Noch schnell die festen Schuhe holen und den Brotbeutel“, dachte sie. Doch zu Hause angekommen, war sie schon so erregt und in Eile, so dass sie statt nach dem Notwendigen nach der Flöte griff.
„Bald, bald, bald“, klang es in ihrem Herzen wie eine Melodie. Mit jedem Schritt den sie mit der Karawane zog wuchs ihre Hoffnung. Dabei wusste sie gar nicht nach was diese Leute suchten.

Jerusalem war eine schöne Stadt. Sie lag hoch oben am Berg. Man sah die Dächer des Tempels schon von weitem und den Palast des Königs golden in der Morgensonne glitzern. Doch wenn man näher kam, war es auch nur eine Stadt aus Steinen.

Die Karawane bewegte sich nicht in Richtung des Tempels, sondern drängte zum Palast des Königs.

Merkte denn niemand, dass der Stern inzwischen eine andere Richtung wies?

Nein, Jael war nicht so enttäuscht und verwirrt wie die klugen Fürsten der Karawane, als sie aus dem Palast zurückkamen. Diese dachten, dass die Reise hier beim König in Jerusalem enden würde. Doch nach dieser Enttäuschung stellte sich bei ihnen bald die frühere Hoffnung wieder ein, das richtige Ziel ihrer Reise zu finden.

Sie ließen die Lasttiere beladen und bestiegen ihre Reittiere, um weiterzuziehen. Im Gefolge wurde darüber gemurrt. Jetzt, wo man endlich einmal eine große Stadt erreicht hatte, musste man gleich wieder weiterwandern.

Das kleine afrikanische Mädchen das den Elefanten lenkte deutete aufgeregt zum Himmel. Sie sah den Stern und wollte weiter.

Jael spürte jetzt die Blasen an ihren Füßen. Doch sobald sie hinaufschaute zum Stern, hörte sie es in ihrem Herzen wieder klingen: „Bald, bald“. Vielleicht war sie dem ersehnten Glück schon ganz nahe!?

Als der Stern stehen blieb, sah Jael erst einmal einen Brunnen. Gewohnt sich dort schnell einen Platz zu sichern, setzte sie sich auf seinen Rand. Hatte der Stern sie alle genarrt?

Sollte das Ziel der Reise ein Brunnen sein, der armseliger war als der zu Hause? Nichts Neues unter der Sonne. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Seltsam. Und dann – dann wurde ihre Seele plötzlich ganz still. Nie zuvor hatte sie verstehen können, was diese Worte aus dem Psalm meinten: „Meine Seele wird ruhig, sie wird still. Wie ein Kind in den Armen der Mutter ist gestillt meine Seele in mir – wohnt sicher in seinem Frieden.“

DSC_2220Nun wich alle Anspannung von ihr. Sie wusste, dass es ein neues Lächeln war, wie es ihr noch nie geschenkt war, als sie die Flöte an die Lippen führte. Sie spielte die Melodie des „Bald“ – eine freie Improvisation über den Weg hierher.

Und die sehnsuchtsvolle Weise wandelte sich wie von selbst in den strahlenden Klang des „Heute –Hier“.

Und sie sah das Kind in der Krippe liegen. Und sie fühlte sich von diesem Kind gesehen. Ganz so gesehen, wie sie in Wahrheit war.

Als Jael nach Hause zurückgekehrt war, glaubte ihr niemand diese Geschichte. Nur die Mutter fand, dass etwas in ihrem Mädchen, das oft so getrieben schien, zur Ruhe gekommen war. Wodurch auch immer.

Der dritte König

Die Krippe ist ein Ort, an dem sich Menschen aller Zeiten sammeln. An dieser Krippe trägt der dritte König ein weißes Gewand und rote Schuhe. Er hat ein altes Gesicht, in dem man Falten und Risse sieht: Papst Johannes Paul II. So sah er etwa aus, als er gestorben ist.

Der Papst hat das Amt, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein und die Kirche zu leiten. Er lebt in Rom, wo die Apostel Petrus und Paulus begraben sind. Er ist vor allem für die Einheit der Kirche in der ganzen Welt zuständig. Das ist eine sehr große Aufgabe, die niemand alleine tragen kann. Und trotzdem ist der Papst die Person, die für diese Aufgabe steht.

Das Kind in der Krippe hat ja auch, so klein wie es ist, die ganze Welt erlösen können.

Papst Johannes Paul II. wurde nicht schon als Papst geboren, sondern als ganz normaler Junge. Karol nannten ihn die Eltern. Sein großer Bruder war sehr viel älter. Also war er der Kleine. Als Karol neun Jahre alt war, starb seine Mutter.

Sein Bruder war inzwischen Arzt und ging schon arbeiten. Also lebte er allein mit seinem Vater. Der ging oft mit seinem Sohn an einen Ort zum Beten, an dem Maria besonders geehrt wird. Sie gingen zu Fuß und Karol liebte diese Wege mit seinem Vater. Und er mochte Maria. Da seine Mutter gestorben war, war die Mutter Gottes doch in besonderer Weise für ihn zuständig.

Karol war ein fleißiger Schüler. Er lernte gerne, besonders Geschichte. Aber nach der Schule wurde zuerst einmal Fußball gespielt. Oft spielten die jüdischen Kinder gegen die christlichen Kinder. Aber in der jüdischen Mannschaft waren oft zu wenig Spieler. Da hat Karol einfach die Mannschaft gewechselt. Auch wenn die jüdischen Kinder weniger galten. Das war mutig. Und vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass Karol einen jüdischen Jungen zum Freund hatte.

Ein Freund, mit dem man über alles reden kann ist eine Hilfe, mehr zu verstehen. Karol konnte verstehen, dass er und sein Freund an den gleichen Gott glaubten. Nur mit Maria und Jesus konnte sein Freund nichts anfangen. Und Karol musste zugeben, dass es schwer zu erklären ist, warum er glaubte, dass dieses Kind in der Krippe die ganze Welt erlöst hat.

Vor allem, weil so viel zu sehen war, was nicht gut war. Aber gute Freunde wollten sie einander trotzdem sein.

Als Karol ein junger Mann war, wollte er Schauspieler werden. Er mochte die Kunst. Und er hatte Talent für Sprachen. Aber es war Krieg. Unser Land hat Polen überfallen. Jetzt wurden die Juden nicht nur verachtet sondern verfolgt, eingesperrt und umgebracht. Und alle jungen polnischen Männer mussten für die Deutschen arbeiten. Karol arbeitete in einem Bergwerk. Er hat gut überlegt, was man tun kann, wenn man in einer Zeit lebt, die so voll Gewalt ist. „Wenn ich auch Gewalt übe, dann wird es noch schlimmer. Aber wenn ich meine Zeit ganz gut nutze und so einsetze, dass es Gott gefällt, dann hat niemand außer Gott Macht über mich.“

Damals gehörte Karol zu einer Jugendgruppe mit 15 anderen Jungen und sie haben es richtig geübt, ihre Zeit gut zu nutzen. Sicher hat ihm das später geholfen, als er Papst wurde.

Wenn ein neuer Papst gewählt wird, sind die Menschen nicht nur sehr gespannt, wer es wird, sondern auch, was er als erstes sagen wird. Johannes Paul II. hat als erstes gesagt: „Habt keine Angst.“ Er hat es auf Italienisch gesagt „Non avete paura.“

Ob er daran gedacht hat, dass genau diese Worte die Engel den Hirten auf dem Feld gesagt haben?

Der Papst ist Stellvertreter Christi. Er hat sich erinnert, dass Jesus gesagt hat: „Lasst die Kinder zu mir kommen.“ Darum hat er bald nach seiner Wahl die Kinder eingeladen. Sie sollten das Christkind aus ihrer Krippe mitbringen. Und er, der Stellvertreter Christi würde sie segnen. Da sind die italienischen Mamas wohl auf den Dachboden gestiegen und haben nach der Weihnachtskiste gesucht. Und vielleicht durften dann die frischgeweihten Christkinder bei den Kindern bleiben bis zum Fest.

In Polen, dem Land, aus dem der Papst kam, regierten inzwischen Menschen, die die Welt ohne Gott heil machen wollten. Aus eigener Kraft. Alles sollte allen gehören. Das klingt gut. Aber wer kümmert sich, wenn etwas kaputt geht? Und wer sorgt dafür, dass wirklich gerecht verteilt wird? Es ist den meisten Menschen nicht gut gegangen mit dieser Lebensweise. Vor allem hatten die Menschen keine Freiheit.
Ob Karol, der inzwischen Papst Johannes Paul II. war, ihnen helfen könnte? – Wenigstens konnte er ihre Not verstehen.

Der Papst hat dann etwas gemacht, was vor ihm noch kein Papst gemacht hat. Er ist gereist. In viele verschiedene Länder. Da war es gut, dass er so gerne fremde Sprachen lernte, denn dann konnte er alle Menschen in ihrer Sprache begrüßen. In Polen war das einfach. Das war seine Muttersprache.

In viele Länder und Kontinente ist er gereist. Und immer ist er kräftig und strahlend aus dem Flugzeug oder dem Hubschrauber gestiegen. Den Stab mit dem Kreuz hat er den wartenden Menschen entgegengehalten wie ein Siegeszeichen.

Auch nach Polen ist er gereist. Und damit hat er in seinem Land den Glauben gestärkt. So sehr, dass die Mächtigen Angst bekommen haben. Sie wollten doch beweisen, dass man die Welt ohne Gott erlösen kann.

Er war gerade mal drei Jahre Papst, da haben Leute jemanden bezahlt, damit er den Papst erschießen sollte. Fast wäre es gelungen. Aber, wie er dann selber sagte: „Jemand hat die Kugel umgelenkt.“ Johannes Paul II. hat geglaubt, dass Maria ihn behütet hat. Sein Herz war ganz dankbar dafür, dass ihm noch einmal Zeit zum Leben geschenkt worden ist.

So gerne wollte er die Kirche ins nächste Jahrtausend führen.

Er hat die Kugel, die ihm den Tod bringen sollte für die Krone einer Marienfigur verwendet. Und in seinem Herzen hat er gesagt: „Ich bin ganz dein.“ Das war auch sein Wahlspruch.

Als Papst hatte er sein Leben schon in den Dienst der Kirche gestellt. Da hatte er im Gebet den Gedanken, dass er Maria auch sein Sterben zum Geschenk machen könnte. Auch seinen innigen Wunsch die Kirche ins nächste Jahrtausend zu führen, wollte er in ihre Hand legen.

Er durfte noch lange leben und die Kirche ins nächste Jahrtausend führen. Das hatte er sich so sehr gewünscht. Das war die Gelegenheit für ein großes Fest. Doch als der Termin näher kam, stand nicht mehr das Fest im Mittelpunkt.

Der Papst dachte über Vieles nach: An den langen Weg der Kirche in 2000 Jahren. Er dachte an Maria. Welche Zeiten sie wohl gefreut hatten? War es nicht wunderbar, dass es kaum noch einen Winkel in der Welt gab, wo man von der Geburt des Gottessohnes noch nicht gehört hatte?
Als er an den langen Weg der Kirche dachte seit Gott durch das Kind in der Krippe den Menschen ganz nahe kam, war er ganz betroffen davon, wie viel Schlechtes trotzdem in dieser Zeit geschehen war. Und wie viel auch Christen zu diesem Schlechten beigetragen hatten. Weil der Mensch frei ist kann er sich auch entscheiden, das Böse zu tun. – Das wusste der Papst schon immer.

Aber jetzt dachte er besonders an die Kirche. An alle Menschen, die an Christus glaubten. In diesem Moment hat er sich nicht so sehr als Stellvertreter Christi gefühlt, sondern als Teil dieser Kirche. Da hat er geweint und sich ganz klein gemacht. Und er hat um Vergebung gebeten. Das war in Jerusalem. Dort wo die Juden beten. Ganz nah bei Bethlehem.

Nun war er also fast dort, bei der Krippe. Aber es lag noch ein Stück Weg vor ihm. Sein Sterben, das er Maria schenken wollte. Der kräftige, der „Starke Papst“, wurde krank. Seine Hände zitterten und er konnte nicht mehr gut stehen und nur mit Mühe reden. Seine Ratgeber fanden, er sollte sich ausruhen. Aber der Papst wollte sich unbedingt mit jungen Leuten treffen. So wie er damals die Kinder eingeladen hatte, wollte er jetzt Jugendliche treffen.
Niemand fand, dass das eine gute Idee ist. Aber dann haben sie die Jugendlichen doch eingeladen, obwohl sie dachten: Wer wird schon wegen diesem alten kranken Mann eine Reise machen.

Nun hielt Johannes Paul II. sich an seinem Stab mit dem Kreuz mit seinen letzten Kräften fest. Er konnte fast nichts mehr tun. Aber er konnte darauf vertrauen, dass Gott durch ihn etwas wirken konnte. Manchmal musste er mit dem Rollstuhl geschoben werden. Jeder konnte im Fernsehen sehen, dass er kaum noch die Hand heben konnte, um die Jugendlichen zu segnen.
Da ist etwas ganz Seltsames geschehen. Plötzlich konnten die jungen Leute sehen, dass nicht der mächtigste Mann der Kirche sie besucht. Sondern der Stellvertreter Christi. Ein Funke des Verstehens zündete zwischen diesen Jugendlichen und diesem alten Papst. Ein Funke der Liebe.

Das war das Geschenk, das der dritte König Maria und ihrem Kind mit seinem Sterben gebracht hat.

 

Wie die Heilige Dorothee zur Krippe kam

 Eine erweiterte Auslegung der Legende der Heiligen Dorothee

Von ihren Eltern sehnsüchtig erwartet wurde Dorothee im Jahr 290 in Cäsarea geboren. Ihr christlicher Vater Dorus war Senator in einer Provinz des römischen Reiches.

Da dem römischen Kaiser Diokletian die Christen wie ein stechender Dorn im Auge waren, konnte Senator Dorus in seiner hohen Stellung nur im Verborgenen Christ sein.
Dennoch hatte er seine Tochter gleich nach der Geburt taufen lassen. Und seine Frau, die auch Christin war, unterwies sie im christlichen Glauben. Als Dorothee älter wurde, durfte sie die Mutter auch zu den Armen in der Stadt begleiten, wenn sie ihnen Nahrung und Medikamente brachte.

Die Armen hatten trotz ihrer Armut auch einen großen Reichtum. Es waren ihre vielen Kinder.

Wenn Dorothee mit ihrer Mutter unterwegs war, begegneten ihnen fast immer viele Mütter mit ihren Säuglingen. Und bei deren Anblick hüpfte das Herz der kleinen Dorothee vor Freude und das Blut schoss ihr in die Finger.

Eines Tages erzählte ihr die Mutter, dass sie Gott lange Zeit um ein Kind angefleht hatte. Darum habe sie ihr den Tauf-Namen „Dorothea“ – „Gottesgeschenk“ gegeben. „Du bist ja auch ein echtes Gottesgeschenk!“ sagte sie.
Wenn ich ein Geschenk bin, so will ich auch ein Geschenk sein, dachte Dorothee. Und fortan machte sie es sich zur Aufgabe für die ganz Kleinen Geschenke mitzubringen – eine Feder, einen glitzernden Stein und was sich sonst so alles fand. Und wenn sie gar nichts auftreiben konnte, nahm sie ihre Flöte mit und spielte eine heitere Melodie.

Und wenn sie in die kleinen Gesichter schaute, sah sie in all den Kindern nicht nur Menschenkinder, sondern Gottesgeschenke. Es schien ihr, dass diese ganz Kleinen wohl direkt aus dem Paradies kämen. Und sie verstand wohl, warum gerade die Armen so reich beschenkt wurden.

Ihre Mutter erzählte ihr viele Geschichten von Jesus Christus und seinen Jüngern. Sie nannte diese „Evangelium – frohe Botschaft“. Dorothee hörte von der frohen Botschaft für die Armen, sie erfuhr, wie Jesus kranke Menschen heilte, wie er Gleichnisse erzählte, die vom Himmelreich handelten.

Aber wenn sie alleine war und an all dies dachte, so war es Jesus selbst, der ihr besonders nahe war. Der Herr der Jünger, der am Kreuz endete. Ihr schien, als läge darin auch eine Wahrheit über ihr eigenes Leben. Aber dieses Gefühl konnte sie nicht recht verstehen. Was sollte ihr schon widerfahren können? „Gib mir ein Wort, an das ich mich halten kann, wenn ich geprüft werde“, betete sie oft. Und als sie Antwort bekam, blieb ihr diese verschlossen. „Du bist schon gebunden.“, das war es, was sie vernahm. Und weil sie ein großes Herz hatte, verwahrte sie diese Worte dort und dachte bei sich: „Es wird mir schon zur rechten Zeit gezeigt werden, was diese Worte bedeuten.“

Als ihre Mutter eines Abends von der „Geburt des Herrn“ erzählte und von jenen Geschenken, die die Weisen dem Kinde brachten, sprach Dorothee ganz traumverloren: „Ich würde dem Kindlein das Bett mit Rosen schmücken. Und seiner Mutter brächte ich Äpfel aus dem Paradies.

Und den Korb würde ich dem Josef geben, dass er alles für die Flucht hineinpacken könnte.“ So fest stellte sie sich all das vor, dass sie meinte, es sei schon geschehen.

Die Familie des Senators Dorus lebte sehr zurückgezogen. Sie hatte nur wenige Dienstboten. Und zur Verwunderung der Nachbarn keine Sklaven. Da war es schon eine große Herausforderung, als sich Fabrizius der Statthalter der Provinz, zu einem Besuch anmeldete.

„Wenn dieser Abend nur schon vorüber wäre“, hörte Dorothee ihre Mutter seufzen. „Wir haben so gar nichts Besonderes zu bieten, was diesem hohen Herrn Eindruck machen könnte.“
„Ich kann ihm ja auf der Flöte vorspielen“, versuchte Dorothee ihre Mutter zu trösten. Und dieser Vorschlag kam in so kindlicher Arglosigkeit aus ihrem Munde, dass die Mutter es ihr nicht abschlagen mochte.

Fabrizius war jung und neu in seinem Amt. Er wollte die Senatoren in seiner Provinz kennen lernen. Und außerdem war er sehr beschäftigt mit der Frage, wen er standesgemäß heiraten könne.

 

Als er nun dieses Mädchen mit der Flöte sah, begehrte er es so sehr, dass er es am liebsten gleich mitnehmen wollte. Die Eltern würden sich durch eine Heirat bestimmt geehrt fühlen, meinte er. „Diese zarte Rose will ich pflücken“, schoss es ihm durch den Kopf und er ging zielstrebig auf das Mädchen zu.

Ernst hörte sie ihm zu. Dann schwieg sie eine Weile und lauschte in sich hinein. Sie sah ihm direkt in die Augen und gab ihm die merkwürdige Antwort: „Ich bin schon gebunden.“
Das wollte Fabrizius nicht glauben. „Wo ist er denn, dein Bräutigam?“ Und er sah das Mädchen erröten. Wieder schwieg sie – dem ungeduldigen Fabrizius schien es eine Ewigkeit lang. Dann antwortete sie fest: „Für deine Augen ist er unsichtbar, doch er ist immer bei mir.“

Da geriet Fabrizius in Wut. Er begriff schnell, dass dieser unsichtbare Nebenbuhler der Christengott war. Und einen Unsichtbaren kann man schwerlich beiseite schaffen.
„Du musst von diesem törichten Glauben lassen“, drohte er dem Mädchen: „Du kannst als meine Frau reich und glücklich leben. Der Stolz deiner Eltern wirst du sein, wenn du diesem Gott abschwörst.“

Dorothee blieb standhaft und wiederholte nur: „Ich bin schon gebunden.“ Und zu ihren Eltern sprach sie: „Nun bin ich wohl ein Geschenk Gottes für euch gewesen, und ich bitte euch, dass ich Gott sein Geschenk wieder unversehrt zurückbringen darf.“ Unter Tränen nickten ihr die Eltern zu.

Da fiel Fabrizius kein anderes Mittel ein als Gewalt. Er ließ das Mädchen schlagen und foltern. Und als Dorothee bei ihrer Antwort blieb, ordnete er eine öffentliche Hinrichtung an.

Er konnte ihre Standhaftigkeit nicht begreifen. Schon lange hatte er sich gewundert, was Kaiser Diokletian gegen die Christen hatte, die doch ordentlich und widerstandslos ihre Steuern bezahlten. Jetzt war ihm klar, dass auch er, der Kaiser, es nicht ertragen konnte, dass er die oberste Macht über sie nicht hatte.

Fabrizius wollte Dorothee verhöhnen. Er wollte sich stark fühlen durch seinen Spott. So rief er laut ihre letzten Worte in die Menge: „Hört was diese Mädchen für einen Unsinn redet: Sie gehe in ein anderes Land. Dort werde es niemals kalt.“ Einer von den Zuschauern, ein Schreiber – sein Name war Theophilus -, griff den Spott auf: „Da kannst du mir ja von dort Rosen schicken.“

Doch Dorothee hörte nicht den Spott: „Rosen aus dem Paradies will ich dem Kind in der Krippe bringen.“ – Mit diesem zuversichtlichen Gedanken neigte sie ihren Kopf vor dem Henker.

Und da stanDSC_2232d sie nun mit ihrem Korb. Ohne zu zögern ging sie auf Maria zu, ihr die Gaben zu bringen. Es war für sie wie ein nach Hause Kommen, und sie wunderte sich gar nicht, sondern sie freute sich nur, nun endlich an diesem Ort sein zu dürfen, wo Himmel und Erde für immer miteinander verbunden sind.

Maria sprach: „Dein Leben ist das Geschenk. Denn dein gerader Weg, den du so lauter bis zu Ende gegangen bist, ist ein Zeugnis für dieses Kind. Gib den Korb mit den Rosen einem der Hirtenknaben. Er mag ihn Theophilus bringen, damit auch er glaubt, dass es ein Land gibt, in dem es niemals kalt wird.“