Bruder Jona

Die Geschichte von Bruder Jona ist die Frucht eines Schreibprojektes. Zwei Autorinnen schrieben die Geschichte abwechselnd für eine Leserin, ohne sich über den Verlauf zu verständigen. Im „Ping Pong“ entstand jeden zweiten Tag ein Abschnitt.

Bruder Jona war ein kleiner Mönch. Klein, schmächtig, flink und stets bereit, jedem ein Lächeln zu schenken. Der Frühling war angebrochen. Erste warme Sonnenstrahlen beleuchteten die gegenüberliegende Wand des Kreuzgangs. Bruder Jona verbarg die Hände unter seiner Kutte, um sie sich zu wärmen. Nach dem Morgenlob hatte es ihn nicht mehr bei seinen Mitbrüdern gehalten. Er musste sofort in seinen kleinen Garten. Seit der Abt ihm vor einigen Jahren die Sorge um Pflanzen, Kräuter und Gemüse ihres Klosters anvertraut hatte, war Bruder Jona selbst erblüht. In der einfachen bäuerlichen Gegend im Norden Britanniens aus der er stammte, war es selbstverständlich gewesen, von seiner Hände Arbeit zu leben. Tief waren die Menschen seiner Heimat mit „Mutter Erde“ – wie sie sie ehrfürchtig und zugleich liebevoll nannten, verbunden. Viele dort waren noch nicht dem neuen Glauben an den Wanderprediger und Messias Jesus nachgefolgt, der im fernen Palästina gelebt hatte, sondern verehrten die „Große Göttin“, ihrer keltischen Vorfahren. Die innige Verbundenheit mit ihrer natürlichen Umgebung, dem Acker, dem Wald und allen Tieren, gehörte zum Wesen dieser Menschen.

Jonas Familie gehörte zur christlichen Gemeinschaft des „Vaters Jakob“. Dieser war ein gütiger, zugewandter Mann, der allen Menschen im Dorf (und weit darüber hinaus) stets gerne half. Er stand ihrer kleinen Gemeinde als Priester vor; war aber zugleich Weiser und Lehrer – ein „Arzt für die Seelen“. Er war bei allen Dorfbewohnern – unabhängig welcher religiösen Überzeugung sie folgten – gleichermaßen beliebt und geachtet. Er sprach stets eher wenig, langsam und achtsam. Eigentlich sprach er mehr mit Herz und Augen als tatsächlich mit seinen Worten. Immer wenn man mit irgendeiner Last seinen Rat aufsuchte, hatte man den Eindruck, er würde in seinem Inneren gleichsam eine Schale für sein Gegenüber formen, die diesen liebevoll bergend und ebenso frei und sozusagen „nach oben offen“ aufnahm. Ihm konnte man sich wahrhaft mit-teilen. Und Bruder Jona durfte bei ihm bereits als 5-jähriger in die Schule gehen. Vater Jakob liebte seinen „kleinen Adlatus“, wie er ihn nannte, denn da Jona keine Geschwister hatte, und Vater Jakob seine Eltern davon überzeugte, dass seine wache Seele noch viel mehr erblühe, wenn sie sich früh den Menschen öffnen würde, nahm er ihn zu vielen seiner Besuche mit. So halfen sie den Bauern bei der Ernte, versorgten Kranke, lehrten Kinder das Lesen (Bruder Jona konnte es mit 5 Jahren bereits selbständig!) und besuchten die Alten des Dorfes.
Vater Jakob war Bruder Jonas großes Vorbild; so wollte er auch einmal werden! Je älter er wurde, desto größer wurde seine Sehnsucht, noch mehr zu lernen. Vater Jakob schlug seinen Eltern vor, ihn in eine der Schulen zu schicken, die an Klöster angeschlossen waren. Das jedoch hieß, die geliebte Heimat, das Dorf und vor allem die Eltern zu verlassen. Und das machte Jona traurig.

Lange war das nun schon her. Viele Bilder in seinen Gedanken wurden nun von der Sonne an der gegenüberliegenden Wand des Kreuzgangs mit durchstrahlt. Und plötzlich sprang Bruder Jona von der massiven steinernen Bank auf der er saß. Ein neuer Tag lag vor ihm:
Ein außergewöhnlicher Tag. Denn Vater Abt hatte den großen Rat einberufen. Eine wichtige Entscheidung stand an, bei der Jeder – vom Ältesten bis zum Jüngsten – gehört werden sollte.

Versonnen warf Bruder Jona einen Blick auf die Kräuterbeete. Immer war ihm deren Verschiedenartigkeit ein Bild für die Mitbrüder gewesen. Würzpflanzen, ohne die die Gemeinschaftssuppe doch recht fad wäre. Heilpflanzen – in der richtigen Dosis – die sich auch mal als Giftpflanzen erwiesen … und jede brauchte eine ihrer Eigenart angepasste Umgebung. Viel oder wenig Sonne, viel oder wenig Humus, Wasser … In den letzten Wochen war das Gesicht des Abtes fahl geworden, sorgenvoll. Ob Kriegsgefahr das Kloster bedrohte? Bruder Jonas wusste es nicht, da er ganz allein auf dem Klostergelände seine Arbeit tat. Doch „was kann uns scheiden von der Liebe Christi?“, sprach er sich selbst Mut zu. Oder standen Bauarbeiten an? Die Schlafsääle platzten tatsächlich aus allen Nähten. Es war erfreulich viel Nachwuchs da, der noch einen Weg vor sich hatte, im Kloster einzuwurzeln.

Ach, man vergaß viel zu oft, seinen Vorgesetzten dankbar zu sein; für all die Bedrängnisse, die sie trugen und die ein einfacher Bruder gar nicht mitbekam. Seine eigene größte Bedrängnis war derzeit „häuslicher Unfriede“. Da er sich mühte, gut zu allen zu sein, wusste er um innere Konflikte. War es nicht auch jetzt so, dass sich schon Parteien bildeten, bevor der Abt sein Anliegen formuliert hatte? „Gut informierte Kreise“ liefen herum, als hätten sie die Lösung schon in der Tasche. Doch Jona wollte – nach oben offen – einfach hören. So wie er es als Knabe bei Vater Jakob hatte lernen dürfen.

Horch! Der Gong rief die Brüder zusammen. Ganz zittrig war heute sein sonst so runder Klang. Bruder Jona freute sich, dass selbst die Postulanten alle dabei sein durften.

Ganz still war es in der Statio. Die Mönche standen rechts und links, die Augen gesenkt, und schwiegen erwartungsvoll. Bruder Jona war überrascht über den schwungvollen und kräftigen Schritt von Vater Abt. „Zwölf“, hob er an, „zwölf Freiwillige suche ich.“

Nun hätte man eine Feder fallen hören. Warum sprach er nicht endlich weiter? „Ich suche Zwölf, die zusammen im Land der Kelten eine Neugründung wagen – nein, meldet euch nicht jetzt. Bedenkt es vor Gott. Ich suche nicht zwölf Einzelne, denn jeden von Euch weiß ich bereit. Ich suche Zwölf, die sich einigen können, wer sie führen soll. Drei Tage lang soll täglich nach Untergang der Sonne das Schweigen aufgehoben werden, damit ihr miteinander beraten könnt.“

Staunen lag auf allen Gesichtern. Staunen über den Mut des Vaters ihnen einen solchen Schritt zuzutrauen. Waren dort nicht lauter Heiden? Wo sollten die zwölf Mönche wohnen? Nun summte es in der Statio wie in einem Bienenstock. Ob wir unter uns Zwölf haben, die sich einigen könnten? Das war die Frage Bruder Jona bewegte. Und dann plötzlich fühlte er einen Stich in seinem Herzen. Heimweh.

Das gefühlte „Heimweh“ erfüllte zunächst Bruder Jonas Brust. Langsam leerte sich die Statio; das Summen der Stimmen seiner Mitbrüder wurde leiser. Als würden Bienen den Stock verlassen und ihr Summen mit ihnen nach draußen ziehen. Nach und nach breitete sich ein regelrecht körperlich spürbarer Schmerz von der Brust nach unten in Jonas Magen aber auch zur Seite in seine Arme aus. Er hätte nicht gedacht, dass die Konfrontation mit seiner Heimat und vor allem mit der großen Aufgabe, die Vater Abt ihnen dort zu tun aufgetragen hatte, ihn so stark treffen würde … So stand er da; unfähig zum nächsten Schritt und blickte weiter zum Fenster hinaus auf seine Beete. Auch sie waren ihm inzwischen vertraut geworden, lieb geworden, ans Herz gewachsen. Ja, das ganze Kloster – der regelmäßige Rhythmus von Gebet, Arbeit, Mahlzeiten, der die immer wieder auftauchenden Überraschungen des Alltags doch auffing, sie umrahmte, war ihm in den Jahren, in denen er hier nun schon lebte (es waren inzwischen immerhin fast 20 seit er um Aufnahme gebeten hatte!) wie zum „zweiten Atem“ geworden … Und das sollte er nun hinter sich lassen? Er erschrak, als seine langsam sich wieder in Bewegung setzenden Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren. Erst jetzt wurde ihm schlagartig klar, dass es in seinem Herzen nie einen Zweifel darüber gegeben hatte, dass er – der kleine Bruder Jona – unbedingt einer der Zwölf werden wollte.

Mit dieser Klarheit erschöpften sich vorerst seine körperlichen Kräfte und als er merkte, dass seine Knie ihm den Dienst zu versagen drohten, drehte er sich leicht und ließ sich langsam auf der Statio-Bank nieder. Ja, er wollte mitgehen! Ja, er wollte etwas von dem zurückgeben, was Vater Jakob ihn einst gelehrt hatte! Und: er wollte nun auch all die Schätze in seine Heimat zurücktragen, die er hier im Kloster sammeln durfte!

Bruder Jona barg sein Gesicht in den Händen und horchte in sein Herz. Da war kein „Eigenwille“, der ihn in selbstsüchtiger Weise trieb; und auch das Heimweh war nicht die eigentliche Triebfeder der Kraft, die er allein schon bei dem Gedanken an diesen Aufbruch spürte. Es war eine Gewissheit, die sich nun in ihm ausbreitete und der sein anfänglicher Schmerz und die noch vor kurzem so deutliche Erschöpfung nun langsam wich. Die Gewissheit, dass hier eine wirkliche Aufgabe auf ihn und seine Brüder wartete. Und sie wuchs. Jona spürte, dass sich nun etwas in ihm öffnete. Eine nie zuvor erlebte „Weite des Herzens“. Er hob den Kopf und atmete tief. Das war es: er stand unmittelbar vor der Stufe der nächsten; ja, der entscheidenden Etappe seiner eigentlichen Berufung! Mit diesem Erkennen hielt es Bruder Jona nicht mehr auf der Bank. Er sprang auf und fing an, in der Statio schnellen Schrittes auf und ab zu gehen. Die ganzen Jahre im Kloster kamen ihm nun plötzlich wie eine Ausbildungszeit vor; eine gezielte, geistgeführte Bildung seines Herzens und Wissens – genau auf diesen Weg zurück in seine Heimat hin! Er blieb stehen und ließ das Gefühl des Einswerdens mit seinem Weg, mit dessen „Rundwerdung“ sozusagen, ganz in sich einströmen.

Drei Tage nun sollte das Schweigen nach Sonnenuntergang ausgesetzt werden – so etwas hatte es in ihrem Kloster noch nie gegeben. Drei Abende mussten genügen, damit sich eine Gruppe seiner Mitbrüder so formierte, dass sie der heiligen „Zwölfzahl“ – der Zahl der Stämme Israels, der Zahl der Apostel Jesu Christi entsprachen! Nur so konnten sie diese große Aufgabe überhaupt beginnen … Wieder fing Bruder Jona an zu laufen … Nicht „zwölf Einzelne“ suchte ja der Vater Abt. Zwölf sollten es sein, die sich einigen könnten – und vor allem auch noch einigen darüber, wer sie führen sollte! Schon an dieser Stelle wurde Bruder Jona klar, dass viele Herausforderungen gemeistert werden mussten, noch bevor sie überhaupt in die keltischen Gebiete aufbrechen würden!

„Einigen, wer sie führen sollte“ … Der Klang dieser Worte erfüllte Bruder Jonas Kopf. Offensichtlich also wollte der Vater Abt sie nicht begleiten. Nicht auch nur wenigstens für eine kleine Zeitspanne den Pater Prior mit der Leitung des heimatlichen Klosters betrauen, um der Gruppe durch seinen erfahrenen geistlichen Blick zumindest das Anfangsstück ihres Weges zu erleichtern … Nein, es war unmissverständlich gewesen – er wollte sie aussenden! Allein!

Als Jona endlich wieder aus dem Fenster blickte, war die Sonne schon über den Zenit geschritten! Er hatte das Verrinnen der Zeit überhaupt nicht bemerkt. Schnell raffte er seine Kutte, ging eilends aus der Statio und lief auf seine Beete zu. Vor Sonnenuntergang musste er wenigstens noch die wichtigsten Gartenarbeiten erledigen und durfte natürlich auch bei der Vesper nicht fehlen. Heute Abend würde es beginnen. Das Schweigen würde für den ersten Abend ausgesetzt. Bruder Jona begann sich zu konzentrieren. Als er anfing, zu jäten entspannten sich wenigstens seine Hände etwas, sein Atem beruhigte sich und er trat in die vertraute Zwiesprache mit all den kleinen Wunderwerken der „Mutter Erde“, die unter seinen liebevollen und kundigen Fingern so prächtig gediehen. Sein Geist jedoch war ausgerichtet auf den heutigen Abend, der so ganz anders werden würde als die vielen anderen zuvor…

„Herr, hilf mir, heute abend ein Hörender zu sein.“ Mit diesem Stoßgebet verließ er den Garten. Als Ersten hörte er Magister Hubertus zu, der dozierte: „Auf jeden Fall braucht die Gruppe einen Schriftkundigen, sodann einen Arzt, einen Cellerar, einen Theologen … Alle jung, kräftig, erfahren.“ „Muss man dort nicht erst Bäume fällen? Vielleicht bräuchte es jemanden, der von der Landwirtschaft etwas versteht“, warf ein Novize ein, der eher davon etwas verstand. „Ich finde es nicht gerecht, wenn nur Kräftige mitdürfen. Wir haben doch gelernt, dass man sich nicht nur die fetten Schafe aussuchen soll“, meinte ein anderer.

„Fett, mager – ich jedenfalls bin leider zu alt“, seufzte Engelbert; aber sein Gesicht drückte eher Zufriedenheit darüber aus. „Den Bruder Engelbert hätte ich gerne dabei“, schoss es Jona durch den Kopf. „All die klösterlichen Traditionen trägt er in sich.“
Sie wechselten einen liebevollen Blick.

„Wenn der mitkommt, dann ohne mich!“ Jona konnte nicht orten, wer diese Worte gesprochen hatte. War da von ihm die Rede? Was für eine Gefahr lag doch darin, dass sie nun anfingen einander auszusuchen. Lag das Geheimnis klösterlicher Gemeinschaft nicht eben darin, sich zusammengefügt zu wissen vom Herrn? Und als Bruder Jona immer noch schwieg, schob er ein unwirsches: „Bis morgen Abend will ich Bescheid“ nach.

Jona entschlüpfte dem Raum. Er wollte in die kleine Seitenkapelle, die nachts immer offen blieb. Alleine sein – beten.

Er war überrascht und erleichtert, dort einige Brüder vorzufinden. Vor allem ältere. Saß da nicht auch Engelbert, trotz seiner Gliederschmerzen auf einer harten Bank? Eigentlich wollte er beten. Doch seine praktische Seite wandte sich der Frage zu, welche Samen, Ableger, Wurzelknollen er mitnehmen könne. Was würde dort wachsen? Welche Pflanzen würden die längeren Winter dort überstehen?

„Aber ich will gar nicht mit, Bruder Wunibald.“

Am Liebsten hätte Bruder Jona geantwortet: „Sie sollen doch nicht hinter Dir her gehen – die 10 Brüder – sondern sollen in aller Demut, Achtung und mit Liebe unserem Herrn Jesus folgen …“ Aber er antwortete nicht. Statt dessen senkte er den Kopf vor Bruder Wunibald und blieb still. Dieser blickte auf ihn herab und Bruder Jona fühlte sich weiter entfernt von der „Augenhöhe“ als jemals zuvor. Schließlich drehte sich Wunibald abrupt auf dem Absatz um und ging hinaus. Plötzlich war da wieder eine Erschöpfung zu spüren, die Bruder Jona fast zwang, sich in eine der Bänke gleiten zu lassen. Er sank in die Knie. „Herr, Einziger, ewig Barmherziger, König der Welt …“ Sein Gesicht in den Händen bergend betete er: „Herr, Du weißt alles. Du bist unendlich nahe. Du, mein Tröster. Du, Lenker unseres Lebens. Vor Dir brauche ich keine Worte zu machen. Du kennst meine Seele. Du weißt um alle Not. Herr, Du weißt, dass ich nie aufhörte, meine Heimat zu lieben. Nie habe ich aufgehört, Dir zu danken, für alles, was Du wachsen lässt, für alle Farbenpracht von Wiesen, Feldern und Wäldern; für allen Geschmack der Früchte, die Du wachsen lässt; für alle Kraft, die Du uns schenkst, uns mit dem Boden zu vereinen, um Brot von der Erde zu gewinnen; für allen Duft, der Blumen, die Dein Geist wachsen lässt – Herr, nie habe ich aufgehört, dankbar zu sein, für all das Leben, das Du schenkst. Und Du wirst es erhalten. Du, der Du Macht hast, die Herzen aller Menschen zu trösten. Sei uns allen nahe. Lass uns alle Deine guten Knechte sein. Mögest Du uns doch als Schenkende in dieses Land ziehen lassen, da wir doch Beschenkte sind; getragen von Respekt und Liebe.“ Als Bruder Jona den Kopf hob, waren seine Hände von Tränen nass. Er hatte nicht gemerkt, dass er weinte.

Am nächsten Tag arbeitete er wieder konzentriert und fleißig im Garten. Das warme Frühlingswetter half ihm. Er sang mit größerer Innigkeit als sonst die Psalmen und war am Abend äußerst wach. Jeder Nerv in ihm war angespannt; und doch lag in dieser Wachheit eine Ruhe.

Bruder Wunibald hatte an der Tafel vor dem Refektorium einen Zettel angebracht, dessen Aufschrift verkündete, dass alle, die sich vorstellen konnten, einer der Zwölf“ werden zu wollen, sich nach der Komplet im Kapitelsaal einfinden sollten. Auch hier spürte Bruder Jona einen Stich in seinem Herzen. Nun würden Mitbrüder wie Engelbert – die sich zu „alt“, zu „schwach“ oder sonst wie für „ungeeignet“ hielten, wohl nicht mehr kommen …

Doch als er langsam die schwere Klinke der Tür zum Kapitelsaal niederdrückte, sah er schon durch den ersten Türspalt hindurch in der hintersten Reihe Bruder Engelbert auf einem Stuhl sitzen. Auch eine ganze Reihe der anderen Älteren waren hier. Bruder Jonas Herz hüpfte vor Freude! Gut 40 Brüder füllten etwa die Hälfte des Saals.

Bruder Wunibald saß ziemlich weit vorne im Raum; tatsächlich in lockerem Halbkreis umringt von etwa 10 Mitbrüdern. Nun wurde Jona auch den Vater Abt gewahr – der völlig entgegen der sonstigen Sitte – unweit von Bruder Engelbert auf einem der hinteren Plätze saß und interessiert nach vorne blickte. Bruder Wunibald konnte einen deutlichen Anflug zunehmender Unsicherheit nicht verbergen. Erst als der Abt mit einer freundlich einladenden Geste seiner rechten Hand und einem warmen Lächeln Bruder Wunibald ein Zeichen tat, dass er ihn ohne Formalitäten frei gewähren lassen würde, erhob sich dieser und gewann rasch, seine Tatkraft und Selbstsicherheit zurück. Sein Körper straffte sich, er stand aufrecht. „Brüder!“, hob er an: „Brüder, ich danke euch! Danke, dass ihr gekommen seid!“

Er blickte in die große Runde. „Genau genommen sind wir schon fast vollzählig – die Antwort von Bruder Jona steht noch aus, den wir gerne als Übersetzer dabei hätten.“ „Wir auch“, sprach Bruder Martinus. Bruder Wunibald war verblüfft. In dem stillen Landarbeiter Martinus hatte er keine Führernatur vermutet. „Welches wir?“, fragte er. „Nun der Magister Hubertus hatte die Frage aufgeworfen, welche Fähigkeiten man für die Neugründung vereinen muss. Da habe ich halt unter den Handwerkern rumgefragt.“ Wunibald war erleichtert. Das klang nicht nach einer organisierten Gruppe. „Und euer Programm?“ „Das wird sich finden, wenn wir dort sind. Wenn die Zwölfzahl voll ist, wählen wir.“ Noch nie hatte Bruder Martinus so viele Worte an einem Stück sprechen müssen. Und er hoffte, es würde so bald nicht wieder nötig sein. Genau genommen hoffte er auf Bruder Jona – nicht nur als Übersetzer, sondern als Anführer. Ein Leben unter diesem demütigen, jungen Mann in einer kleineren Gemeinschaft, mit handfesten Leuten … Nach den ersten Anfangsanstrengungen könnte das eine gute Sache werden.

„Bruder Wunibald, du hast nach dem Programm gefragt. Kannst du uns deines vorstellen?“ Engelbert hatte diese Frage in den Raum geworfen. Wunibald kam nicht zu einer Antwort. Denn plötzlich sprachen alle zugleich. Jeder wollte anmerken, was bei der Neugründung dringend gebraucht würde: „Offenheit für die Umgebung“; „strengere Klausur“; „konsequentes Fasten“; „weniger Gebet, damit mehr Zeit für die Aufbauarbeiten blieb“; „mehr Gebet, dass die Kelten das monastische Leben so kennen lernten, wie es die Regel vorgab“ ….

Der Abt klopfte. Die Mönche schwiegen. Einige hofften noch auf ein klärendes Wort von seiner Seite, doch er gab ihnen nur seinen Segen für die Nacht. Sehr sicher fühlte sich Bruder Jona „von den Nachstellungen des Feindes“ allerdings nicht. Hatte nicht Hochmut ihn gepackt, weil beide Gruppen ihn dabei haben wollten? Und Wut und Ungeduld mit seinen Brüdern, weil sie einander nicht zuhörten?

Wenn er an die Gruppe um Martinus dachte, fragte er sich, ob ihnen nicht klar war, dass auch hier im Kloster ein Zimmermann von Nöten war. Warum hatte Vater Abt nicht vernünftig ausgewählt? Dieses ewige Gerede konnte unmöglich bis zum nächsten Abend zu einer ausgewachsenen „Missionsmannschaft“ führen.

Ja. Hochmut war es, dass er jetzt über die ideale Zusammensetzung der Gruppe nachdachte. Und Scham überfiel ihn, als ihm aufging, wie sehr persönliche Gründe hineinspielten in seine „Auswahl“.

Jona suchte Zuflucht in der Bibel. Gottes Auswahlverfahren war irgendwie anders. ER erhöhte die Niedrigen.

Die Zuflucht im Wort stimmte ihn wieder zuversichtlich. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Der dritte Tag.

Da klang gleich die Befreiung aus dem Bauch des Fisches mit – wenigstens für jene, die Jona heißen. Und die Auferstehung des Herrn. Wie viel Trost lag doch darin, dass der Herr immer wieder all unsere Erwartungen überbot. Dass ER Wege schuf, wo wir nur Ausweglosigkeit wahrnehmen.

Endlich kam der Schlaf dann doch.

Am nächsten Morgen stand Bruder Jona schon unruhig auf. Als er sich bei den „Laudes“ erhob, der Kantor Bruder Basilius, das „Domine, labia mea aperies …“ sang, war er froh, mit „et os meum annunciabit laudem tuam“ antworten zu können. Er atmete aus. Ja, darum bat er besonders heute wirklich, dass „der Herr seine Lippen öffnen möge“ (nicht er selbst) und dass „sein Mund SEIN Lob verkünden möge“ (nicht sein eigenes). Niemals wollte er bewusst hochmütig handeln. Er wollte doch Diener sein, wirklich dienstbereit, hörend, eins mit SEINEM Willen. Nur so konnten die Dinge wachsen. ER brauchte uns doch – als dialogbereite „Mitarbeiter“. Es fiel Jona an diesem Tag sogar schwer, sich auf die Arbeit im Garten zu konzentrieren. Immer wieder sprang er plötzlich auf, ging einige Schritte hin und her, blieb ebenso plötzlich wieder stehen und dachte nach.

Schon länger nicht mehr hatte Jona die Komplet mit solcher Inbrunst gebetet, wie an diesem Abend. Wieder drückte er die Türklinke zum Kapitelsaal langsam nach unten. Würden die selben Mitbrüder hier sein, wie gestern? Fast zögernd schob sich Jona durch den Türspalt und wurde als Ersten Bruder Basilius gewahr. Als die Zahl der Brüder wieder auf rund 40 angewachsen war, die Sitzordnung ungefähr der vom Vortag vergleichbar wurde (der Kreis um Bruder Wunibald hatte wieder die vorderen Plätze eingenommen und saß abermals im lockeren Halbkreis um ihn herum; der Vater Abt blickte erneut von einem der hinteren Sitze interessiert nach vorne); erhob sich überraschend Bruder Basilius und verkündete in die nun leiser werdenden Stimmen seiner Mitbrüder hinein: „Es wäre mir ein Anliegen, mit einem Hymnus um den Heiligen Geist den heutigen letzten und wohl entscheidenden Abend zu beginnen.“ Alle nickten zustimmend. Mit weicher, sonorer Stimme fing Basilius nun an, den Pfingsthymnus zu singen. Immer mehr Brüder fielen ein. Schließlich war der Kapitelsaal erfüllt vom volltönenden Klang ihres Gesangs. Als sie geendet hatten, trat ein konzentriertes Schweigen ein.

Nun war es Bruder Martinus, der abermals für Überraschung sorgte, indem er sich auch an diesem Abend – gleich zu Beginn – entschlossen hatte, erneut zu sprechen. „Brüder“, setzte er an; „Brüder, ihr wisst, dass der Herr mir nicht eine Zunge zu langen, gewandten und gescheiten Reden gab. Und doch glaube ich einfach, wir brauchen Handwerker, zum Bau dieses neuen Gotteshauses.“ „Ich denke, das hatten wir gestern bereits festgestellt“, fiel ihm von der gegenüberliegenden Raumseite Bruder Lukas ins Wort. Bruder Lukas war einer derjenigen aus der Reihe der Handwerker-Brüder des Klosters, die Martinus zwei Tage zuvor tatsächlich bereits angesprochen hatte, ob sie sich eine Beteiligung am Aufbruch in die keltischen Gebiete vorstellen könnten. „Richtig“, ließ sich da Martinus erneut vernehmen; „aber nun drängt die Zeit …“ Er wippte unruhig von einem Bein auf das andere und verkrampfte seine Hände. „Nun“ – ermunterte ihn da plötzlich Bruder Wunibald – „es sieht so aus, als hättest Du einen Vorschlag; sprich also!“ Bruder Martinus wechselte abrupt die Gesichtsfarbe, wurde rot und fuhr sich mit der linken Hand nervös durch die Haare. Das Weitersprechen kostete ihn nun sichtbare Anstrengung. „Ja“, brachte er mühsam hervor, „ich möchte den Vorschlag machen, dass seitens der Handwerker und Landarbeiter je 6 Mitbrüder und seitens der Gelehrten und Schriftkundigen je 6 Mitbrüder gewählt werden.“ Er holte tief Luft und fügte hinzu: „Denn ein Haus Gottes muss aus geistigen und materiellen Steinen gleichermaßen erbaut werden. Lehm von der Erde und die Gabe der Einsicht vom Himmel …“ Er blickte nun zu Boden. Noch nie hatte er so offen über seine Gedanken gesprochen; und schon gar nicht vor so großer Zuhörerschaft. Stille lag im Raum. Nicht wenige waren überrascht, über diese weisen Worte; die wohl kaum jemand ausgerechnet aus dem Munde von Bruder Martinus erwartet hätte.

„Hast du dir vielleicht auch sogar noch überlegt, wer diese Auswahl treffen soll?“, ließ sich da Bruder Wunibald vernehmen; und es war nicht mehr eindeutig festzustellen, ob seine Stimme aus Verwunderung oder Neid etwas lauter geworden war. „Nun“, setzte da nach einer kurzen Stille Bruder Martinus erneut an, „ich fände es treffend, wenn die Auswahl der Gelehrten von Bruder Hubertus als Magister und Dir als Priester und Bibliothekar; und die Auswahl der Handwerker von Bruder Stephanus als Cellerar und Bruder Lukas als Zimmermann getroffen würde“. Schier mit letzter Kraft holte er noch einmal Luft und schloss: „Also jeder 3.“

Nun setzte schlagartig das Stimmengewirr wieder ein. Das laute Summen, das schon bei der Ankündigung dieser Mission nach den Worten des Abtes einsetzte, wiederholte sich nun.

Auch diesmal konnte der Abt durch sein Klopfen alle Anwesenden zum Schweigen bringen. Es dauerte allerdings etwas länger als am Vortag, bis alle sich beruhigt hatten. „Seid ihr Vier bereit, die Wahl zu treffen?“ Der Abt hatte sich vom Stuhl erhoben und blickte in die Runde. „Nun? – Bruder Hubertus?, Bruder Wunibald?“ Jetzt war die Stille vollkommen im Raum. Nicht einer wagte auch nur zu husten. Langsam erhob sich Bruder Hubertus und betrat die Mitte des Kapitelsaals. Wunibald tat es ihm gleich. „Und?“ sagte der Vater Abt – nun eine deutliche Spur lauter und mit klarer Autorität – „Bruder Stepanus?, Bruder Lukas?“ Vor allem Bruder Lukas wurde nun etwas blasser, als er ohnehin schon war. Noch nie hatte der Vater Abt ihn mit einer Entscheidung betraut. „Ich weiß nicht …“ ließ er sich da schüchtern vernehmen und verbarg seine beiden großen Hände eilends unter der Kutte. „Was gäbe es da nicht zu wissen?; du bist ein guter und erfahrener Handwerker. Man schätzt deine gleichermaßen zupackende wie umsichtige Art, sowohl mit dem Baumaterial wie auch mit den dir zugewiesenen Hilfskräften umzugehen. Du kennst deine Brüder, mit denen du lange und gut zusammengearbeitet hast!“ Gleichzeitig lagen hier Lob und Tadel vor ihm. Die Freude über dieses große Lob jedoch, das der Vater des Klosters hier sozusagen erstmals in aller Öffentlichkeit über seine Arbeit ausgesprochen hatte, gab Bruder Lukas die Kraft aufzustehen. Zusammen mit Bruder Hubertus betrat er nun ebenfalls die Mitte des Kapitelsaals.

„Wie klug, wie überaus klug“, dachte Bruder Jona und freute sich, dass die Tugend nun half, die Gruppe zu bauen. Ein gut ausgewähltes Fundament. Die Vier blickten in die Runde. Keiner mochte so recht den Anfang machen. Zwar hatte jeder in seinem Bereich einen Blick für die Schwächen und Qualitäten der Anderen. Aber nun offen die Namen zu nennen war nicht leicht. „Es ist ja auch die Frage, wie es zu Hause weitergeht ohne die Zwölf“, stellte Lukas erst mal halb verlegen in den Raum. Plötzlich ging die Tür auf und ein Knabe stolperte herein. Er hatte seine ganze Kraft für die schwere Eichentür gebraucht und darum das Gleichgewicht verloren. Errötend erhob er sich. „Es tut mir leid“, murmelte er. Alle schauten ihn so fragend an, dass ihm schien, er müsse weiterreden. „Ich bin Daniel. Eigentlich wohne ich noch im Gästetrakt und vielleicht hätte ich noch gar nicht hineingedurft in die Klausur. Aber ich will mit!!“ Die letzten Worte kamen laut, fast trotzig.

„Warum?“, fragte Bruder Hubertus ruhig. Er kannte den Knaben; 13. Sohn einer Bauersfamilie, der Einlass ins Kloster suchte aus purer Not.

„Jeden Tag beten, immer am gleichen Ort. Ich bin jung und möchte etwas von der Welt sehen bevor ich sterbe. Das Meer …“. Er stockte; holte noch einmal tief Luft: „Zu essen brauche ich fast gar nichts und schlafen kann ich auch überall.“ Vater Abt erhob sich. Würde er jetzt losdonnern, weil der Knabe eine Mission mit einem Abenteuerausflug verwechselte? Mühsam und doch schnell erhob sich Bruder Engelbert: „Mir geht es ebenso. Zwar bin ich alt; aber noch einmal reisen … Das Land sehen, das mir Bruder Jona so farbenprächtig ausgemalt hat; damals, als er noch so jung war, wie dieser Knabe, wie Daniel.“ Viele erhoben sich und bekannten ihre Abenteuerlust. Vater Abt schmunzelte. „Ich wollte Daniel nur meinen Platz anbieten. Er ist gut gewählt zum Beobachten. Und ich weiß ja, dass ich meiner Abenteuersehnsucht nicht folgen darf.“ Er verließ den Raum.

Nun hätte die Wahl weitergehen können. Doch Bruder Jona erhob sich und trat in die Mitte: „Knaben haben den Vorzug, eine fremde Sprache schnell zu lernen. Ältere Brüder haben den Vorzug, Entscheidungen mit viel Lebenserfahrung zu fällen. Starke Brüder – jeder kennt ihre Vorzüge. Aber auch die Schwachen …“ Bruder Jona wusste nicht recht, wie er deren Vorzug formulieren sollte. „Sie tragen die Gemeinschaft, indem sie sich getragen wissen.“ „Und dann gibt es Pflanzen, die in neuer Erde vortrefflich gedeihen. Und andere, die eingehen, wenn man sie aus dem gewohnten Erdreich entfernt.“ Einige der älteren Brüder senkten die Köpfe.

„Sollten wir also das Los werfen?“, spottete Bruder Wunibald. Bruder Kilian erhob sich. Er war ein frommer Mann. Aß kaum, trank kaum, schlief kaum. „Mission wird nicht mit der Hand und nicht mit dem Kopf gemacht. Es ist das Herz, das gläubige Herz. Wir sollten unsere Herzen prüfen, ob der Herr uns zu dieser Aufgabe ruft. Ich für meinen Teil höre, dass ich selber nicht gehen soll, sondern dass ich die, die aufbrechen werden, im Gebet begleiten soll.“ Er ging auf die Tür zu. Es war, als hätte er ein allgemeines Zeichen zum Aufbruch gegeben. Viele erhoben sich.

„Bruder Martinus, ich habe Deine Rechnung noch nicht verstanden. Warum hast du gesagt, jeder soll 3 wählen. Mit denen, die wählen, sind es ja dann erst 10?“, flüsterte Bruder Jona zu Bruder Martinus hinüber.

Bruder Martinus beugte sich zu ihm: „Nein, Bruder Jonas, das hast Du falsch verstanden; Bruder Hubertus und Bruder Wunibald sollen je 3 aus den Reihen der Gelehrten wählen, dann sind es 6 Brüder; und Bruder Stephanus und Bruder Lukas sollen je 3 aus den Reihen der Handwerker und Bauern wählen – also noch mal 6. Auf diese Weise haben 4 Brüder 12 ausgewählt … ich finde es besser, wenn die Last der Verantwortung über die Auswahl auf diese Weise auf mehrere Schultern verteilt wird.“ Jetzt nickte Bruder Jona anerkennend.

Durch diese kurze Unterhaltung jedoch waren sie beide abgelenkt gewesen, vom weiteren Verlauf der Dinge.

Inzwischen waren fast die Hälfte aller Anwesenden gegangen und nur noch etwa knapp über 20 Brüder bildeten ein kleines, fast verlorenes Grüppchen im Kapitelsaal. Immer noch standen Bruder Hubertus, Wunibald, Stephanus und Lukas in der Mitte. Der Kreis derjenigen aber, aus denen sie nun noch wählen konnten war fast allzu licht geworden …

Nun ließ sich plötzlich wieder Bruder Basilius vernehmen (es war selten, dass man ihn nicht singen hörte, wenn er den Mund auftat): „Also mich hat sehr beeindruckt, was Bruder Jona vorhin gesagt hatte; über die Vorzüge der Jungen, sich auf Neues einzustellen und noch viel dazuzulernen, über die Vorzüge der Alten mit ihrer Lebenserfahrung und Weisheit, über die Vorzüge der Schwachen, welche die Gemeinschaft tragen, weil sie sich getragen wissen … Mir kommt das vor wie eine Symphonie in der jedes Instrument seinen besonderen Klang, seine ganz eigene Stimme und den Platz im Orchester einnimmt, der von keinem der anderen Instrumente gefüllt werden kann …“ „Und was willst Du uns konkret damit sagen?“, unterbrach erneut Bruder Wunibald, der nun von seinem Platz in der Mitte aus ungeduldig von einem Bein auf das andere trat. „Dass ich einen Antrag zur Abstimmung darüber stellen möchte, dass Bruder Jona die Leitung der Gruppe übernimmt“, stieß Basilius nun hervor, „denn er hat außerdem noch die besten Kenntnisse von Sprache und Kultur der Menschen.“

Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus. Bruder Jona wurde in die Mitte des Raumes gedrängt. Doch sein Gesicht verriet keine Spur von Freude. Eher stand darin Ratlosigkeit geschrieben. Jona konnte sich selber nicht verstehen. Antwortete dieser Vorschlag nicht auf seine uneingestandenen tiefen Wünsche? Und doch lief da etwas verkehrt. Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn.

„Warum er und nicht ich?“. Das war Bruder Wunibald. „Gerade ist mir klar geworden, welche Handwerker ich auswählen würde“; das wahren die ruhigen Worte von Bruder Lukas.

Inzwischen zupfte Daniel Bruder Engelbert am Ärmel: „An wen muss ich mich halten, wenn ich mit will?“ Bruder Engelbert schwieg. Seine Augen richteten sich auf das Kreuz; doch ob der Junge diesen unauffälligen Hinweis verstehen konnte, wusste er nicht. Doch als er sich mühsam erhob, reichte ihm Daniel wie selbstverständlich den Arm. Langsam verließen die Beiden den Saal. Achtsam hielt Daniel die schwere Tür, so dass sie sich leise schloss.

Hinter ihnen ein Gewirr von Stimmen. „Wunibald“, riefen einige im Chor. Bruder Basilius war überrumpelt. Er hatte nicht mit so heftigen emotionalen Reaktionen der Brüder gerechnet. Auf Bruder Jona zugehend sagte er: „Das wollte ich nicht. Ich dachte nur … Du bist ja ganz blass.“

Tatsächlich war alle Farbe aus dem Gesicht von Bruder Jona gewichen. Er hörte nur noch Wortfetzen: „… nicht einmal lesen“; „… schon zehn …“; „… schnell beschließen.“ Bruder Martinus war es, der ihn im Zusammensinken mit seinen kräftigen Armen auffing. Als er den Ohnmächtigen auf die erste Bankreihe bettete, öffnete er die Augen. Doch er sah nicht den Kapitelsaal. Er sah Vater Jakob durch das helle, offene Land vor sich herschreiten. Und wie es ihm schon als kleinem Buben ergangen war, so ordneten sich auch jetzt seine Gedanken. Im Raum war es merkwürdig still. Es lief auch niemand nach Wasser. „Vater Jakob, ich wollte der Erste sein. Doch diese Schwäche – ich konnte sie bei mir nicht erkennen, weil ich sie so scharf beim Anderen sah. Den Splitter. Bei mir ist es ein Balken. Vater – hilf mir umzukehren.“ Jona fühlte sich plötzlich ganz leicht, wie schwebend. Er realisierte gar nicht, dass Bruder Martinus ihn trug. Der wollte mit Bruder Jona ins Krankenzimmer. Nie hat er begriffen, warum seine Füße einen anderen Weg einschlugen und wie er mit dem Kranken in die Kapelle gelangt war.

Bruder Wunibald stand wie vom Donner gerührt. Da bekannte jemand seine Sünde. Noch nie hatte er sich so bis in sein Innerstes geschämt. Es war ihm plötzlich vollkommen gleichgültig, wer die Gruppe führen würde.

Die Brüder hatten einzeln und in kleinen Gruppen den Raum verlassen. Als Bruder Lukas sah, dass Bruder Wunibald alleine zurückblieb, blieb er stehen und hielt ihm die schwere Eichentür auf. Sie wechselten einen Blick. Und Bruder Wunibald las Ruhe und Zuversicht in den Augen von Bruder Lukas. Und er fühlte eine bisher nie gekannte Dankbarkeit, dass dieser da sein Bruder war und auf ihn gewartet hatte. Dass dieser Bruder ihm mit Achtung begegnete; in diesem Moment, in dem er vor Scham vergehen wollte. Etwas Befreiendes lag in diesem Blick und machte Bruder Wunibald Mut. Fast schon wieder zielstrebig wandte er sich zur Eckkapelle. Er wollte seinen Ehrgeiz zerschmettern an Christus; er wollte sich SEINER Führung anvertrauen.

Auch hier hielt ihm Bruder Lukas die Tür auf. Gesammelte Stille umfing sie. Bruder Jona war schon wieder etwas zu Atem gekommen, als er Bruder Engelbert mit dem Jungen wahrnahm. Dahin waren sie also verschwunden.

Der Kelch stand auf dem Altar. Wie merkwürdig; sie hatten doch nie in dieser Kapelle eine Messe gefeiert. Es brannten auch die Kerzen. Träumte er etwa schon wieder?

Die Glocke läutete. Zu stark war in den Mönchen die Gewohnheit, sich bei diesem Klang zu erheben. Und niemand wunderte sich mehr, als Vater Abt aus der winzigen Sakristei, die gar keinen eigenen Eingang hatte, einzog. Bruder Basilius stimmte das „Kyrie“ an. „Herr, erbarme Dich“ – es war genau das, was alle Anwesenden in ihrem Herzen trugen. Und nun? Fragend schaute Bruder Basilius zu Vater Abt. Hatte er sich sein Nicken nur eingebildet? Egal – als Mönche waren sie doch zum Gotteslob bestimmt. Er machte mit dem „Gloria“ weiter.

Nach der Kommunion sprach Vater Abt: „Und nun gibt es noch den Reisesegen für die zwölf hier anwesenden Mönche – für die 11 und unseren neuen Postulanten Daniel. Ich danke Gott, dass ER euch erkennen ließ, dass da nur EINER ist, DER führt – ER, der DREIFALTIGE selbst.“

Alle knieten nieder und der Abt nannte die Namen derer, die auf die große Reise gehen sollten.

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