Der erlöste Christbaum

Wenn die Adventszeit beginnt, wachsen allerorten die Christbaumkäfige aus dem Boden. Eingezäunt stehen die Tannen nach Größe und Wuchs geordnet. Ebenmäßig, gerade. Manche auch noch im Drahtgehäuse. Wir drehen und wenden und urteilen. Der ist zu buschig, bei dem ist der Abstand zwischen den Zweigen zu groß, der ist ganz schön, aber nur von einer Seite. Und alle wollen wir den schönsten Baum erwischen.
Heute hat mir jemand von einem Mann erzählt, der einen besonderen, anderen Blick hat. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeweils den „letzten“ Baum zu wählen. Also ließ er sich die asymmetrischen, verwachsenen zeigen. Die übriggebliebenen, die einfach nicht passen wollten in unser Bild vom perfekten Christbaum. Es war seine Freude, gerade diese  „Missgeburt“ zum Leuchten zu bringen. Auf eine Art, wie gerade dieser besondere Baum es konnte. Und manche seiner Freunde waren schon richtig neugierig, auf diesen einmaligen Christbaum

Einmal war es nicht einmal ein richtiger Baum. Nur der unterste Kranz von Zweigen, der übrig bleib, weil jemand seinen Baum gekürzt haben wollte. „Den nehme ich“, sagte er dem verblüfften Baumverkäufer, der ratlos war, in welche Preiskategorie dieser Rumpf nun gehöre.
Wie aus dem Rumpf ein Christbaum wurde? Er stand aufrecht, wie eine Sattelitenschüssel. In der Mitte das empfangene Christkind, und ihm zugeordnet alles Andere an Zier und Getier. Mittegeordnet- ein Bild für Erlösung.

„Wie schade, dass diese Kunstwerke  vergänglich sind, die das Schiefe und Schwache so leuchtend machten,“ sagte die Frau, die mir die Geschichte erzählte.

Ich widersprach. Vielleicht vergeht das Bäumchen. Aber die Geschichte bleibt. In mir hat sie Bilder geweckt und den Blick verändert.

6. Dezember 2013

Grüner Smoothie

Guter Rat ist heutzutage nicht mehr teuer. Der Ratgebermarkt boomt – nicht nur in Buchhandlungen, auch in Drogerien, Apotheken, Kiosken. Frau trifft die Entscheidung, welcher passt. Dann heißt es gehorchen, damit die vielen Heilsversprechungen sich auch erweisen können.

Die Städterin hat nach dem Grünen Smoothie gegriffen, orange und grün, der Umschlag attraktiv. Und lauter fröhliche Gesichter auf den Bildern. Unkompliziert, einfach – das klingt vielversprechend. Außerdem wird da Hilfe versprochen für die Tage vor den Tagen. Endlich ein Ratgeber, der sich der wahren Nöte annimmt.

Sie liest sich ein – Tabellen – nicht so wichtig – Zubereitungsart – alles pürieren – wirklich einfach – Zutatenliste – das scheint tatsächlich das Reich der unbegrenzen Möglichkeiten zu sein – Einkaufszettel schreiben und los geht es.
Erst die Profimaschine im Fachgeschäft. Wenn schon dann richtig. Es gibt gleich drei Modelle. Das bestätigt ihr im Trend zu liegen. Wohltuend. Andere, die ihre Erfahrung teilen. Der grüne Smoothie tut gut.

Genau genommen hat sie diese Erfahrung noch gar nicht. Es fehlen ja noch die Zutaten. Viktualienmarkt, Biostand. Dort macht sie gleich einen Rundumschlag. Was noch fehlt sind Rosenblätter, Lavendel, Giersch. Bei der Nachfrage nach letzterem hat der Verkäufer ihr einen etwas merkwürdigen Blick zugeworfen. Darum geht sie erst einmal ins Blumengeschäft. Dort kennt sie sich aus. „Rosenblätter bitte.“ Man reicht ihr eine Tüte mit ausgestanzten roten Textilherzen. Als sie bekundet natürliche Blätter zu brauchen – „Zum Streuen?“, fragt die Verkäuferin und geht in den hinteren Teil des Ladens Richtung Biotonne – „Nein, zum Trinken – kennen sie etwa den grünen Smoothie nicht?“ – „Ach so, da eignen sich am besten Coburgrosen“, sagt die Verkäuferin, da ihr davon heute die doppelte Menge geliefert worden war.

Noch ein Blick auf den Einkaufszettel. „Noch Lavendel“, bittet die Frau und setzt mutig hinzu: „Und Girsch, wenn sie ihn dahaben.“ „Giersch?“ Sie holt entschlossen den Ratgeber unter dem Biogemüse hervor. „Das Unkraut, das überall wächst?“, fragt die Verkäuferin nun wirklich erstaunt. Die Kundin, die sich nicht ernst genommen fühlt flieht in einen souveränen Abgang. „Bitte bestellen sie mir für nächsten Dienstag Samen – ich möchte ihn selber ziehen.“ Sie greift ihren Korb, vergisst Rosen und Lavendel. Ihr ist alles zuviel, der Korb, die Maschine, das Gemüse, die Stadt mit all den Menschen. Und der grüne Smoothie, der einfach nicht hält was er verspricht: Linderung in den Tagen vor den Tagen.

Ins Bett, Decke über die Ohren, das hat immer geholfen. Sie hört noch das Türschloss – wohl ihr Mann, der gerne essen würde. Als er Gemüse und Maschine sieht zieht er sich leise zurück. Da träumt sie schon von einem grünen Wundersaft für und gegen alles.

Neuer Glaubenssatz

Als Kind hörte ich gelegentlich über mich sagen, ich sei sprachbegabt. Ein Eindruck den ich nicht teilte, da ich oft sehr lange nachdenken mußte, um ganz einfache Sätze zu entschlüsseln. Überall lauerte Doppelsinn. Dann hieß es wieder, dass etwas nicht so gemeint sei – eine sehr verunsichernde Aussage.
Vielleicht war ich es ja doch? Musikalische Kinder leiden an schrägen Tönen, sprachbegabte an unredlichen Sätzen. Vor allem an Sprüchen litt ich oft. Sie kamen mit dem Anspruch auf Wahrheit daher. Mein Vater relativierte zwar: „Etwas wird nicht wahrer, weil man es immer wieder sagt.“ Aber auch diesen Satz konnte ich so nicht stehen lassen. Ganz tief in meinem Inneren wußte ich nämlich, dass man das Wort „wahr“ gar nicht steigern kann. Gut, es gibt Halblügen. Aber das sind trotzdem Lügen.
Einer meiner Onkel klopfte gerne Sprüche. Müßte es nicht heißen, er klopfte andere gerne mit Sprüchen? Er galt nicht als sehr christlich, da er keine Kinder in diese Welt setzen wollte. Eine in jeder Hinsicht unlogische Schlußfolgerung. Waren nicht die ersten Christen dafür gelobt worden, dass sie die Kinder, die in die Welt gesetzt wurden aufgezogen haben? Und heute gab es nicht einmal mehr Wölfe, die sich eventuell eines solchen Kindes annehmen konnten.
Von diesem Onkel habe ich den schönen Satz gehört: „Es gibt nichts umsonst auf der Welt, außer den Tod, und der kostet das Leben.“ Zuerst habe ich ihn gar nicht verstanden. Es gibt doch so vieles, was nichts kostet. Aber manchmal wird „umsonst“ auch im Sinn von „vergeblich“ gebraucht. „Es gibt nichts vergeblich auf der Welt, außer den Tod.“ Das konnte ich gut begreifen, hatte doch Gott selbst seine Schöpfung als gut bezeichnet.

Es hat fast bis zu meiner Kommunion gedauert, bis ich die zweite Hälfte verstanden hatte. Natürlich wußte ich, dass mit „kosten“ in diesem Fall kein Geldgeschäft gemeint sein kann. Sonst kannte ich aber nur das „kosten“ vom Probieren von Speisen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie man das Leben essen soll.
Dann habe ich einmal in der Kirche gehört: „Kostet und seht, wie gut der Herr ist.“ Das war der gesuchte Schlüssel. Der Herr war ja das Leben.

Also war der Tod vergeblich, weil in ihm eine ewige Kommunion mit dem Leben stattfand.
Ein Tod, der das Leben kostet, war ja vergeblich, weil er nur ein Übergang war zu neuem Leben.

Vielleicht hat sich mein Vater nur darum über meinen Onkel geärgert, weil gerade dem dieser wunderschöne neue Glaubenssatz eingefallen ist? Ich jedenfalls freute mich auf meine erste Kommunion. Und auf meine ewige Kommunion.