1. Krippengeschichte

Aufbruch der Könige

König Caspar lebte in Afrika. Er war der König eines großen Stammes. Aber er war nicht froh darüber. Zuviel Schweres war ihm widerfahren. Sein einziger Sohn war von einer Schlange gebissen worden und daran gestorben. Und als endlich sein zweites Kind geboren wurde starb seine Mutter bei der Geburt. Es war ein Mädchen. Sie kam mit einer großen Beule auf dem Kopf zur Welt.

So wuchs die Königstochter also als Einzelkind heran. Sie lebte nicht in einem Königsschloss, sondern in einer großen Hütte aus Zweigen. Auch nicht mit vielen Dienern, sondern mit ihrem Vater und ihrer Großmutter. Und natürlich mit dem zahmen Elefanten. Auf dem ritt ihr Vater, König Caspar, wenn er benachbarte Könige anderer Stämme besuchte. Dafür wurde der Elefant festlich geschmückt. König Caspar saß am Rücken des Elefanten auf einer Art Thron. Und vorne, fast am Kopf des Elefanten, saß Elibarika, so dass sie ihn mit ihren Füßen lenken konnte.

DSC_1669Zu dieser Zeit starben viele Kinder, solange sie noch ganz klein waren. Darum gab man ihnen erst später ihre richtigen Namen. Am Anfang nannte man sie nur mit einem Kosewort. Und das Mädchen mit der Beule wurde „Beulchen“ gerufen, denn die Beule blieb ihr, auch als sie älter wurde. Ihr richtiger Name war Elibarika. Doch auch als sie älter wurde rief sie fast niemand so. Eigentlich nur ihre Großmutter – die Mutter ihrer Mutter. Sie war wohl die älteste Frau im ganzen Stamm. Niemand wusste genau, wie viele Regenzeiten sie schon gesehen hatte. Auch wenn ihr Augenlicht erloschen war, konnte die Großmutter noch immer prächtige Körbe flechten. Und sie konnte Geschichten erzählen! Man nannte sie „Gedächtnis des Stammes“, denn sie trug alle alten Geschichten in ihrem Herzen. Und Abend für Abend zog sie eine ihrer Geschichten aus ihrer Erinnerung hervor, umringt von Männern, Frauen und Kindern, die ihren Worten lauschten. Jeder Stamm hatte seine eigenen Geschichten, aber in Großmutters Gedächtnis waren auch fremde Geschichten aufbewahrt. Denn es kam immer wieder vor, dass aus der Ferne Geschichtenerzähler kamen. Und so soll es auch vor vielen Jahren gewesen sein.

Der Mann, der die Geschichte gebracht hatte, war hellhäutiger als die Männer im Dorf. Und noch mehr unterschied er sich von ihnen durch sein glattes braunes Haar. Großmutter behauptete, dass sie damals noch fast so jung und neugierig gewesen sei wie Elibarika heute. Und darum habe sie das Haar sogar angefasst. Weich und glatt sei es gewesen. Nicht hart und kraus. Folgendes hatte der Mann erzählt – damals, vor vielen Jahren. Es war wohl eine Rätselgeschichte:

Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn lässt sich auf ihm nieder: Der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Er richtet nicht nach dem Augenschein, und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. ER schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes. Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt am Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange.

Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel – Gott mit uns – geben.

Den Schluss der Geschichte erzählte die Großmutter immer etwas zögerlich, wohl weil sie wusste, dass dieser Satz zu einer anderen Geschichte gehörte. Vielleicht auch, weil die erwachsenen Leute sich an dieser Stelle zuzwinkerten. Ihre Augen sagten: „Das kann nicht sein. So etwas gibt es nicht auf dieser Welt.“

Dann war Elibarika ein kleines bisschen traurig, dass sie dieses Erwachsenengeheimnis wie die Kinder auf die Welt kommen, noch immer nicht ganz verstanden hatte. Wirklich, sie verstand auch nicht, warum ihre Großmutter diese Geschichte gerade immer dann erzählte, wenn ihr Vater besonders traurig war. Sollte sie dann nicht lieber eine Geschichte von dem erzählen, der die Welt gut geschaffen hat?

Diese Geschichten mochte Elibarika. Aber sie ärgerte sich auch darüber. Hatte die Großmutter doch gesagt, dass Geschichten mit Lebenserfahrung zu tun haben.

Natürlich war es schön, die Tochter des Königs zu sein. Es war wunderbar auf dem Elefanten zu reiten, von dessen Rücken sie auch Früchte von hohen Bäumen pflücken konnte. Aber es war nicht schön und gut, dass ihr Bruder nicht am Leben war. Und dass sie nie ihre Mutter kennen gelernt hatte.

Manchmal, wenn sie mit anderen Mädchen aus dem Dorf Mangos ernten ging, dann nahmen ihnen die Jungen, die stärker waren als sie, die großen Früchte weg. Und sie konnten sich nicht wehren. Und wenn Elibarika dann richtig wütend wurde, riefen sie Spottnamen hinter ihr her: „Beulchen, Beulchen – heul schön, heul schön.“ Und obwohl sie so fest vor hatte, nicht zu weinen, weinte sie dann doch. Und das schien die Buben besonders zu freuen.

Elibarika hatte die Nase schon geputzt bevor sie in das Zelt der Großmutter kam. Heute würde sie fragen, wieso sie glaubte, dass die Welt gut geschaffen sei. „Sei nicht traurig, Kind“, grüßte die Großmutter. Und Elibarika wunderte sich. „Du kannst doch gar nicht sehen, dass ich geweint habe.“ „Natürlich weiß ich, dass du traurig bist. Er, der die Erde gut gemacht hat, hat mir, als ich das Licht meiner Augen verloren habe, die Gabe gegeben, den Menschen in die Herzen zu sehen.“ – „Du bist also nicht wütend, dass du nicht mehr sehen kannst, dass deine Tochter nicht mehr lebt, dass du keinen männlichen Enkel hast?“ brach es aus Elibarika heraus.

Lange schwieg die Großmutter. Es war wohl eine schwere Frage, die an viel Schweres erinnerte. Fast tat es Elibarika leid, dass sie so direkt gesprochen hatte. Sie wusste, dass man eine solche Frage mit vielen Höflichkeiten hätte einkleiden müssen. Oder erst gar nicht davon anfangen.

Nach einer Weile sagte die Großmutter:„Er nimmt und gibt. Nur erkennen wir oft nur, was er nimmt. Dann sind wir wütend. – Die Tochter hat er mir genommen. Und dich hat er mir gegeben. Und dein Brüderchen – siehst du, ihn hat eine Schlange gebissen. Und bestimmt hätte ihn ein Heilmittel retten können. Aber wir forschen nur nach Giften für Pfeile und Kriege, darum kannten wir das Heilmittel nicht. Das ist dann die Verantwortung von uns Menschen. Gib dir Mühe, Kind, das Gute zu erkennen, das der Schöpfer der Welt gemacht hat. Und vertraue darauf, dass es da ist.“

Elibarika umarmte ihre Großmutter. Und auch wenn sie dafür eigentlich schon zu groß war, setzte sie sich auf ihren Schoß. Dann legte sie ihr zwei kleine Mangos in die Hände. „Seltsam, dass die Früchte immer kleiner werden“, wunderte sich die Großmutter. „Dabei hat es genug geregnet in diesem Jahr.“

Da begannen bei Elibarika wieder die Tränen zu fließen. „Die großen Jungen nehmen uns die großen Früchte weg. Und dann spotten sie über meine Beule. Man sieht sie gar nicht unter dem offenen Haar, aber ich kann mir nie schöne Frisuren machen wie die anderen Mädchen. Meinen Kopf hat der, der die Welt geschaffen hat wirklich nicht gut gemacht.“

Elibarika war vor Erregung aufgesprungen. Richtig wütend wurde sie aber erst, als ihre Großmutter auch noch über sie lachte. Wütend rannte sie davon.

„Hast du deine Ohren wiedergefunden Beulchen“, fragte Großmutter, als sie gegen Abend wieder zu ihr in die Hütte kam, um sich zu entschuldigen. Doch weil sie Beulchen gesagt hatte, schwieg Elibarika.

„Es tut mir leid, dass du dich ausgelacht fühltest, Kind. Ich habe gelacht, weil mir plötzlich klar wurde, dass du wirklich nicht weißt, welche Gaben du in deinem Kopf hast. Der Kopf ist der Ort, wo die guten Ideen entstehen. Und wo man die Lösung für schwere Probleme finden kann. Und in jeden runden Kopf passt davon eine bestimmte Menge. Und du hast nun diese Beule. Ist dir nie aufgefallen, dass dir auch dann noch etwas einfällt, wenn keiner mehr eine Lösung weiß?“ –

Ganz unrecht hatte die Großmutter nicht. Neulich zum Beispiel hatte sie die Idee, die Mangos zu verstecken und stattdessen Steine im Tuch nach Hause zu tragen. Wie hatten da die Buben dumm geschaut! –

Elibarika war getröstet. Fortan würde sie sich auf ihre Beule verlassen. Vielleicht konnte sie ja nicht nur ganz kleine, sondern auch größere Probleme lösen? Vielleicht konnte sie ja die Rätselgeschichte lösen, die der Geschichtenerzähler aus der Ferne mitgebracht hatte.

Der Anfang war gar nicht so schwer. Sie war ziemlich sicher, dass es um einen Königssohn ging. Der wurde zu einem wirklich gerechten König. Und das war schwer. – Sie sah es an ihrem Vater, wie schwer das war. Alle kamen mit ihren Sorgen. Und es war nicht so leicht zu erkennen, wer die Wahrheit sagte und wer nur einen Vorteil für sich wollte. Aber diesem Königssohn schien der, der die Welt gut geschaffen hat ganz direkt zu helfen.

Trotzdem – der Wolf würde das Lamm fressen. Der Panter das Böcklein, der Löwe das Kalb. Auch wenn es einen Königssohn gäbe, der gerecht wäre – niemals würde ein Löwe sich herablassen Stroh zu fressen.

Elibarika verzog sich auf den Affenbrotbaum, der neben der Hütte ihrer Großmutter stand. Sie versuchte ihre Beule zu aktivieren. Sie dachte nach. Sie machte ein Lied aus den Worten der Geschichte und sang sie vor sich hin:

„Dann wohnt der Wolf beim Lamm, tam tam
der Panther liegt beim Böcklein,
der kleine Knabe hütet sie
und braucht nicht mal ein Stöcklein.

Kalb und Löwe gemeinsam weiden.
und Kuh und Bärin können sich leiden.
Ihre Jungen liegen zusamm, tam tam.“

Beim Singen konnte sie besser nachdenken. Sie konnte die Bilder vor sich sehen. War das nicht ein Lied über Menschen, ein Friedenslied?

Plötzlich wurde sie hochgeschreckt. „Ihr Schlangen“, hörte sie Großmutters Stimme. Und sie sah die beiden Jungen, die den Mädchen so oft die großen Früchte wegnahmen, mit einem Korb davon flitzen. „Wollt ihr mir die Früchte verkaufen, die ihr meiner Enkelin weggenommen habt?“

Plötzlich begriff Beulchen. „Schlangen“ hatte Großmutter gerufen. Und gemeint hatte sie die beiden Jungen. Vielleicht waren alle diese in der Geschichte genannten Tiere ein Bild für den ersehnten Frieden unter den Menschen, den dieser Königssohn bringen würde. – Damit hatte sie das Rätsel gelöst. Denn der letzte Satz, den die Großmutter der Geschichte hinzugefügt hatte schien ihr völlig logisch:

„Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen. Sie wird ihm den Namen Immanuel geben – Gott mit uns.“

Auch ein Königssohn kommt als Kind auf die Welt. Aus dem Bauch der Mutter – soviel hatte Elibarika schon herausgefunden von den Erwachsenengeheimnissen. Und dieses Kind war in den Bauch hineingekommen durch den, der die Erde geschaffen hatte. Bestimmt trug es die Vorstellung in seinem Herzen, wie der Schöpfer die Erde gedacht hatte, und konnte es den anderen Menschen erklären. Auf diese Weise würde er die anderen Könige lehren, wie man gerecht regiert und miteinander in Frieden lebt. Immanuel – Gott mit uns. – Logisch – durch ihn – den Königssohn – wird ja wirklich Gott mit uns sein.

„Großmutter, Großmutter“. So schnell war Elibarika noch nie vom Baum geklettert. Ihre Worte überstürzten sich, weil sie ihren ganzen langen Gedanken auf einmal sagen wollte. Sie vergaß alle Regeln der Höflichkeit. Vor Aufregung fiel ihr nicht einmal auf, dass ihr Vater und ein fremder Gast bei der Großmutter waren. Und dass sie in deren Gegenwart nicht einfach darauf los reden durfte.

„Wo kam der Geschichtenerzähler her, der dir einst die Geschichte von Löwe und Lamm erzählt hat? – Wir müssen dorthin. Alle Könige müssen dorthin. Sie müssen die Jungfrau suchen und das Kind. Es wird sie lehren, wie wir Menschen in Frieden leben können. Vater wird ein guter und fröhlicher König werden!“

Atemlos hielt sie inne. Wer war denn dieser schön gekleidete Fremde? Bestimmt wurde Vater jetzt böse, weil sie wie ein Wirbelwind hineingestürmt war.

Aber alle waren still. Sie schauten Elibarika staunend an. „Wie kann sie es wissen?“, fragte der Fremde. „Sie hat einen guten Kopf“ erwiderte die Großmutter und zwinkerte Elibarika dabei ganz unauffällig zu.

„Elibarika, dieser Fremde hier ist ein Sterndeuter. Er dient einem großen König und hat genau das, was du eben sagtest in den Sternen gelesen. Da ist ein Zeichen am Himmel, dem wir folgen sollen. Sie haben die Kamele schon beladen und wollen wissen, ob wir mit ihnen ziehen. “

„Darf ich mit?? Bitte, bitte darf ich mit?“ –

„Der Ort aus dem der Geschichtenerzähler kam hieß Jerusalem. In unserer Sprache: Stadt des Friedens.“ –

 

„Darf ich miiit???“