Neuer Glaubenssatz

Als Kind hörte ich gelegentlich über mich sagen, ich sei sprachbegabt. Ein Eindruck den ich nicht teilte, da ich oft sehr lange nachdenken mußte, um ganz einfache Sätze zu entschlüsseln. Überall lauerte Doppelsinn. Dann hieß es wieder, dass etwas nicht so gemeint sei – eine sehr verunsichernde Aussage.
Vielleicht war ich es ja doch? Musikalische Kinder leiden an schrägen Tönen, sprachbegabte an unredlichen Sätzen. Vor allem an Sprüchen litt ich oft. Sie kamen mit dem Anspruch auf Wahrheit daher. Mein Vater relativierte zwar: „Etwas wird nicht wahrer, weil man es immer wieder sagt.“ Aber auch diesen Satz konnte ich so nicht stehen lassen. Ganz tief in meinem Inneren wußte ich nämlich, dass man das Wort „wahr“ gar nicht steigern kann. Gut, es gibt Halblügen. Aber das sind trotzdem Lügen.
Einer meiner Onkel klopfte gerne Sprüche. Müßte es nicht heißen, er klopfte andere gerne mit Sprüchen? Er galt nicht als sehr christlich, da er keine Kinder in diese Welt setzen wollte. Eine in jeder Hinsicht unlogische Schlußfolgerung. Waren nicht die ersten Christen dafür gelobt worden, dass sie die Kinder, die in die Welt gesetzt wurden aufgezogen haben? Und heute gab es nicht einmal mehr Wölfe, die sich eventuell eines solchen Kindes annehmen konnten.
Von diesem Onkel habe ich den schönen Satz gehört: „Es gibt nichts umsonst auf der Welt, außer den Tod, und der kostet das Leben.“ Zuerst habe ich ihn gar nicht verstanden. Es gibt doch so vieles, was nichts kostet. Aber manchmal wird „umsonst“ auch im Sinn von „vergeblich“ gebraucht. „Es gibt nichts vergeblich auf der Welt, außer den Tod.“ Das konnte ich gut begreifen, hatte doch Gott selbst seine Schöpfung als gut bezeichnet.

Es hat fast bis zu meiner Kommunion gedauert, bis ich die zweite Hälfte verstanden hatte. Natürlich wußte ich, dass mit „kosten“ in diesem Fall kein Geldgeschäft gemeint sein kann. Sonst kannte ich aber nur das „kosten“ vom Probieren von Speisen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie man das Leben essen soll.
Dann habe ich einmal in der Kirche gehört: „Kostet und seht, wie gut der Herr ist.“ Das war der gesuchte Schlüssel. Der Herr war ja das Leben.

Also war der Tod vergeblich, weil in ihm eine ewige Kommunion mit dem Leben stattfand.
Ein Tod, der das Leben kostet, war ja vergeblich, weil er nur ein Übergang war zu neuem Leben.

Vielleicht hat sich mein Vater nur darum über meinen Onkel geärgert, weil gerade dem dieser wunderschöne neue Glaubenssatz eingefallen ist? Ich jedenfalls freute mich auf meine erste Kommunion. Und auf meine ewige Kommunion.