Der erste Krippenschnitzer

Tim Radek, der erste Krippenschnitzer

Tim Radek war ein nachdenklicher Junge. Er schaute sich die Welt an und wunderte sich, dass sie so war, wie sie war. Warum hatte er kräftige Arme und Beine und seine Schwester konnte nur auf der Strohmatte sitzen? Warum gab es bei ihnen zu Hause immer genug zu essen, oder jedenfalls meistens, während wenige Straßen weiter hungrige Kinder um Brot bettelten? Und warum musste sein Vater soviel Steuern an die Römer bezahlen anstatt Brot für die hungrigen Kinder zu kaufen?

So viele Fragen. Und jede Antwort brachte so viele neue Fragen. Oft wurde Tim Radek ganz traurig, weil er so vieles nicht verstehen konnte. Da war es seltsamerweise seine kleine Schwester Mirjam, die niemals wie die anderen Kinder durch die Straße laufen konnte, die ihn dann tröstete. „Du hast so kräftige Arme, damit du mich herumtragen kannst. Und dem lieben Gott helfen, die Welt zu reparieren.“ Niemand sonst sprach vom „lieben“ Gott. Außer seine kleine Schwester, die in seinen Augen Grund hätte mit Gott zu hadern. Aber er hatte keine Idee, wie er beim Reparieren der Welt behilflich sein könne. Tagelang dachte er darüber nach. Dann ging er zu seinem Vater und sagte: „Vater, ich will Arzt werden.“

„Ach, Bub“, seufzte der Vater, „als Sohn eines einfachen Handwerkers kannst du nur Handwerker werden. Oder dich als Hirte verdingen. Denn dein älterer Bruder wird wohl einmal die Werkstatt übernehmen.“

„Nur reiche und mächtige Menschen könnten Gott helfen die Welt zu reparieren. Und die sind damit beschäftigt noch reicher und mächtiger zu werden“, klagte Tim Radek seiner Schwester. „Und wenn ich als Hirte auf den Weiden bin, kann ich dich nicht einmal umhertragen.“ Auch Miriam war ein bisschen traurig, aber das sollte Tim Radek nicht merken. Sie dachte eine Weile nach. Plötzlich brach sie ihr Schweigen: „Du könntest dich bei Isias bewerben. Der findet nämlich niemanden, der ihm zur Hand gehen will. Und wenn Vater dir die Schnitzmesser mitgeben würde, dann könntest du neue Tiere und Figuren schnitzen.“

„Warum gerade bei dem? Es heißt, er tobt und schimpft. Er sei ungerecht.“ Mirjam wunderte sich. Konnten die Menschen mit den gesunden Beinen wirklich so wenig erkennen? „Bitte Bruder, versuche es. Versuche, ihm ein getreuer Knecht zu sein. Er ist nicht böse. Es sind nur die Schmerzen in seinem rechten Bein, besonders wenn das Wetter wechselt.“
„Du meinst, wenn ich ihn unterstütze, dann helfe ich ein ganz klein bisschen dem lieben Gott?“ Mirjam nickte verlegen. „Und deine Schnitzereien – mag Vater sie auch unnütz finden. Sie sind schön.“

Auch Isias fand die Schnitzereien schön. Überhaupt war er zufrieden mit seinem neuen Knecht. „Seit dieser Tim bei Isias arbeitet, schreit er viel weniger herum. Er erlaubt dem Burschen sogar stundenlang zu schnitzen“, wunderte sich Augustin. Isias schmunzelte in sich hinein, wenn er seine Kollegen so reden hörte.

Dieser Tim Radek nämlich übernahm die ganze Arbeit, wenn ein Wetterwechsel sich anbahnte. Er schien einfach zu spüren, wenn der Meister Schmerzen hatte. Er brachte dann eines von den ruhigen Schafen, so dass er die schmerzende Stelle in seinem Fell wärmen konnte. Und dazu sagte Tim Radek so merkwürdige Sätze wie: „Auch ein Lamm will helfen, die Welt zu reparieren.“ Das verstand Isias zwar nicht. Aber er verstand, dass dieser junge Mann ihm gut war und mit ihm fühlte.

Ganz besonders hatte sich das in jener Nacht gezeigt, als die Engel den Retter der Welt verkündet hatten. Alle waren sie eilends aufgebrochen. Nur Tim Radek hatte sich nach ihm umgesehen und gemerkt, wie heftig seine Schmerzen ihn bei jedem Schritt peinigten. Er hatte kurz gezögert, und ihn dann, wie einst seine kleine Schwester, auf den Rücken genommen. Zuerst wollte Isias das nicht, denn er war ein stolzer Mann. Aber die Aussicht den Heiland der Welt mit eigenen Augen sehen zu dürfen, machte seinen Stolz ganz unwichtig.

Und als er dann ankam und das Kind sah, vergaß er sogar den Schmerz. Weit öffnete er Augen und Herz, um dieses Bild für immer zu bewahren.

Und später, als sie sich auf der Weide an jene heilige Nacht erinnerten, bat Isias Tim Radek, ihm eine Krippe zu schnitzen. Und wenn er sie ansah, wurde er froh und seine Augen leuchteten.
Seine zweite Krippe schnitzte Tim für seine Schwester Mirjam. Ihr wollte er alles ganz genau erzählen, was der Engel verkündet und was er und die Hirten erlebt hatten. Für Tim Radek war klar, dass der Heiland der Welt in die Stadt gehen würde, denn dort war das Unheil der Menschen so greifbar. Und seine Schwester würde ihn dort erwarten. Sie würde ihn um gesunde Füße bitten. Oder würde sie ihn um Frieden auf Erden bitten?
Tim Radek glaubte dem Engel. Obwohl er nur ein Kind gesehen hatte. Ganz hilflos und klein. Eigentlich noch ohnmächtiger als er selber.
Wie gut, dass der Heiland der Welt hier geboren ist, bei uns Armen und den Tieren. Vielleicht würde er auch da anfangen, die Welt heil zu machen?